Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte am 16. Januar 2003 Woche eine einstweilige Verfügung gegen das Londoner Boulevardblatt "Mail on Sunday" erwirkt (epd 4/03). Der Zeitung, die sonntäglich mit über 2,2 Millionen Exemplaren erscheint, wurden sechs Behauptungen über eine angebliche Affäre des SPD-Vorsitzenden mit einer bekannten Fernsehmoderatorin untersagt. Anderenfalls droht ein Ordnungsgeld von bis 250.000 Euro. Die Untersagung beziehe sich auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, betonte eine Gerichtssprecherin auf epd-Anfrage am 20. Januar.
Da die "Mail" aber auch hier zu Lande am Kiosk verkauft wird, wäre die Zeitung praktisch gezwungen, die Behauptungen insgesamt zu unterlassen. Der betroffene Verlag, Associated Newspapers Ltd., bekundete unterdessen, sich nicht an das Verbot der Weiterverbreitung des Gerüchts halten zu wollen. Urteile deutscher Gerichte seien für britische Firmen nicht bindend.
Dem widersprach Rechtsprofessor Prütting und verwies auf die Verordnung Nr. 44/2001 des Europäischen Rates "über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen". Danach müssten auch britische Gerichte Beschlüsse der deutschen Justiz wenn nötig vollstrecken.
Im Gegensatz dazu hatte der Londoner Medienanwalt Duncan Lamont am 19. Januar in den ARD-"Tagesthemen" geäußert: "Wenn der deutsche Kanzler eine einstweilige Verfügung will, die in England wirkt, dann muss er zu einem englischen Gericht kommen."
"Public policy" als Ausnahme
Das Presserecht sei von der EU-Verordnung, die seit dem 1. März 2002 in Kraft ist, nicht ausgenommen, betonte demgegenüber Prütting in Köln. Im aktuellen Fall wäre seiner Ansicht nach vorstellbar, dass Schröders Anwalt, sollte die Zeitung der einstweiligen Verfügung zuwiderhandeln, anschließend bei einem britischen Gericht die Vollstreckung des angedrohten Ordnungsgeld beantragt.
Laut Prof. Thomas Hoeren (Universität Münster) sieht Artikel 34 Nr. 1 der EU-Verordnung 44/2001 allerdings eine Ausnahme vor, wenn die "public policy" des Anerkennnungsstaates betroffen ist. "Hierauf scheinen die britischen Tageszeitungen zu setzen", erklärte Hoeren gegenüber epd. Seiner Ansicht nach könnte es ein Verstoß gegen die britische Vorstellung einer "public policy" sein, wenn dortigen Zeitungen ein Verbot der Berichterstattung drohen würde, "obwohl es in Großbritannien ein solches Verbot presserechtlich nie gegeben hat".
Es könne daher nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass britische Gerichte versuchen würden, die Anerkennung einer entsprechenden deutschen Entscheidung in Frage zu stellen. Wenn man sich die "Komplexität und Langwierigkeit" der englischen Justiz anschaue, ahne man, was die Strategie der britischen Zeitung sein könnte, nämlich einen eventuellen Anerkennungsstreit so lange wie möglich hinauszuzögern. "Denn ,time is money' - gerade für die Presse", betonte Hoeren, Direktor des Münsteraner Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht.
Udo Branahl, Professor für Medienrecht an der Universität Dortmund, fügte hinzu, nach britischem Presserecht könnten Zeitungen nicht zur Unterlassung bestimmter Aussagen verurteilt werden. Betroffene hätten nur die Chance, nach Veröffentlichung auf Schadenersatz zu klagen. Prütting, der auch Ko-Direktor am Kölner Institut für Rundfunkrecht ist, betonte, die Mitgliedsstaaten der EU bewegten sich auf einen "einheitlichen europäischen Rechtsrahmen" zu.
Der Bonner Medienanwalt Gernot Lehr betonte, auch Politiker hätten Anrecht auf einen von der Verfassung verbürgten Schutz ihrer Privatsphäre. In Einzelfällen müssten sie allerdings aufpassen, dieses Schutzrecht nicht zu verwirken, wenn sie selbst in extremer Weise ihr Privatleben über die Medien in die Öffentlichkeit tragen.
Aufruf zu "irgendwelchen Geschichten"
Die "Mail on Sunday" hatte ihre Leser am Wochenende aufgefordert, beim deutschen Botschafter in London per Fax gegen den angeblichen Zensurversuch des Bundeskanzlers zu protestieren. Die Redaktion habe eine "Schröder Investigations Unit" gegründet. Unter einer angegebenen Telefonnummer könnten auch Deutsche "irgendwelche Geschichten" melden, "die Herr Schröder peinlich finden würde und die die deutsche Presse veröffentlichen sollte", so die auf Deutsch gedruckte Ankündigung des britischen Boulevardblatts.
Die Boulevardzeitung textete in einer Schlagzeile: "Sorry, Herr Schröder, but you don't rule Britain... at least, not yet", wiederholte aber laut FAZ vorerst nicht die untersagten sechs Behauptungen; dem "Guardian" zufolge ist dies aber doch geschehen. "Mail on Sunday"-Chefredakteur Peter Wright sagte den "Tagesthemen" zu seinen Motiven für die Kampagne gegen Schröder: "Ja, wir sind gegen mehr europäische Einigung." EU-Recht sollte nicht in Großbritannien gelten.
Das Landgericht Berlin verhandelte am 21. Januar 2003 über einen Widerspruch der "Märkischen Oderzeitung" gegen eine von Schröder erwirkte Untersagungsverfügung;
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Das Ergebnis des Rechtsstreits vor dem Landgericht Berlin ist uns unbekannt.