Buskeismus

Fall Gysi

 

 

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Teil 1/6
Inhalt
Teil 2/6
1 - 5.3
Teil 4/6
6.2. - 6.12.
Teil5/6
7. - 8.
Teil 6/6
Gysi

Die roten Markierungen sind von Rolf Schälike und werden kommentiert.

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Teil 3/6

6. Einzelfälle der Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS

    6.1 Rudolf Bahro

          6.1.1 Die Übernahme der anwaltlichen Vertretung

          6.1.2 Das Testament Rudolf Bahros

          6.1.3 Notizen Rudolf Bahros im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Briefes im "Spiegel"

          6.1.4 Bestellter Brief

          6.1.5 Haftbedingungen Rudolf Bahros/Vorschläge gegen den "Veröffentlichungstrieb"

          6.1.6 Anruf aus West-Berlin

          6.1.7 Zusammenfassung

Deutscher Bundestag

13.Wahlperiode.

Drucksache 13/10893
29.05.98.
Sachgebiet 0000.
 

Bericht.

des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
(1.Ausschuß)

zu dem Überprüfungsverfahren des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi gemäß § 44 b Abs. 2 Abgeordnetengesetz

(Überprüfung auf eine Tätigkeit oder eine politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik).

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6. Einzelfälle der Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS

6.1 Rudolf Bahro

6.1.1 Die Übernahme der anwaltlichen Vertretung

Im Jahre 1977 übernahm Dr. Gysi die anwaltliche Vertretung des am 23. August 1977 verhafteten Oppositionellen Rudolf Bahro. Dieser wurde am 1. August 1978 "durch die abschließende Entscheidung des Obersten Gerichtes der DDR" zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt (Dok. Nr. 146). Den Kontakt zu Rudolf Bahro hatte die Schwester Dr. Gysis vermittelt (Dok. Nr. 143; Anhörungsprotokoll, S. 13).

Am 9. November 1977 fand ausweislich eines der HA IX zuzuordnenden Vermerks gleichen Datums (Dok. Nr. 141  [142 ]) der erste "Sprecher" zwischen Rudolf Bahro und Rechtsanwalt Dr. Gysi statt. In diesem Vermerk wird u.a. ausgeführt: "Im Anschluß an den Sprecher betonte der Rechtsanwalt gegenüber dem Unterzeichner, daß er die Verteidigung BAHROS nur ungern übernommen habe, (..)." Weiterhin werden die folgenden Äußerungen Dr. Gysis dokumentiert: "Er persönlich, so führte er weiter aus, halte Leute wie BAHRO für unverbesserliche Feinde des Sozialismus, die man besser rechtzeitig versuchen solle, in die BRD abzuschieben, da eine ideologische Umerziehung unmöglich sei. In diesem Zusammenhang bot er sich an, BAHRO gegebenenfalls, so "staatlicherseits" ein Interesse daran bestünde, den Gedanken einer Übersiedlung in die BRD nahezulegen, um "unnötigen Ärger nach der Haftentlassung in die DDR" zu ersparen. Des weiteren gab er der Hoffnung Ausdruck, daß eine gerichtliche Hauptverhandlung, falls eine solche stattfindet, nur "in ganz kleinem Rahmen' durchgeführt wird und nicht aus 'falschem Demokratieverständnis' ein größerer Prozeß stattfindet."

Aus der zu Dr. Gysi angelegten IM-Vorlauf-Akte "Gregor" liegt ein Vermerk der Hauptverwaltung Aufklärung/Abteilung III (HVA/III) des MfS vom 16. Februar 1978 (Dok. Nr. 114) vor, der eine als "vertraulich " bezeichnete Mitteilung des damaligen Botschafters der DDR in Italien und Vaters von Dr. Gregor Gysi, Klaus Gysi, enthält. Nachdem zunächst ausführlich über die Heiratsabsichten der Tochter Klaus Gysis berichtet wird, wird mit Bezug auf Dr. Gysi ausgeführt: "Gen. G. gab zu verstehen, daß sein Sohn G., Gregor, zu unserem Organ direkten Kontakt aufnehmen möchte. Er hat die Verteidigung von R. Bahro übernommen und möchte die Verteidigung in Abstimmung mit der Position der Staatsanwaltschaft durchführen. Leider sei bisher keine entsprechende "Hintergrundverständigung" möglich gewesen." Diesen Vermerk leitete die HVA, ausweislich der aufgetragenen Paraphen, an die HA XX/OG weiter. Der "Stellvertreter" der HVA führte in einem Schreiben an den Leiter der HA XX, Generalmajor Kienberg, vom 24. Februar 1978 (Dok. Nr. 144) dazu ergänzend aus: "Der Information über die Tochter des Gen. Klaus Gysi wird zugestimmt. Die in unserem Vermerk vom 16. 2. 1978 enthaltenen Angaben basieren auf einer persönlichen Mitteilung des Gen. Klaus Gysi, die er uns auf operativem Weg zukommen ließ." Abg. Dr. Gysi trägt vor, er habe die Verteidigung Rudolf Bahros ohne vorherige Information seines Vaters übernommen. Mit Bezug auf den Vermerk der HVA vom 16. Februar 1978 gehe er davon aus, daß sein Vater als offizieller Vertreter der DDR einen Wunsch zum Schutze seiner eigenen Person an die HVA des MfS übermittelt habe. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen der DDR sei es ein nicht selbstverständlicher Widerspruch gewesen, daß sein Vater eine hochrangige Funktion eingenommen habe, während er [Dr. Gysi] einen der bekanntesten Oppositionellen der DDR verteidigt habe (Schreiben vom 17. April 1997; Anhörungsprotokoll, S. 21). Zu seiner Entlastung verweist der Abg. Dr. Gysi auch auf den in seiner IM-Vorlauf-Akte enthaltenen Sachstandsbericht der HVA/XI vom 17. Februar 1978 (Dok. Nr. 115). In diesem Sachstandsbericht erklärt ein MfS-Mitarbeiter für die Hauptabteilung XX/1, "daß Gysi für eine Rechtsanwaltsanalyse im DDR-Maßstab genutzt worden sei. Gen. M[.] brachte gleichzeitig zum Ausdruck, daß sie an einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit Gysi nicht interessiert seien, da er ihnen dafür ungeeignet erscheint." Nach Auffassung des 1. Ausschusses dokumentiert der Vermerk der HA IX vom 9. November 1977 bereits die ablehnende Haltung Dr. Gysis gegenüber Rudolf Bahro. Ausweislich dieses Vermerks hat sich Dr. Gysi schon im November 1977 angeboten, Rudolf Bahro den Gedanken an eine Übersiedlung in den Westen nahezulegen und befürwortete eine Durchführung der gerichtlichen Hauptverhandlung gegen Rudolf Bahro "im kleinen Rahmen". Zugunsten von Dr. Gysi geht der 1. Ausschuß jedoch davon aus, daß die Kontaktaufnahme Dr. Gysis zur HA XX des MfS in dem hier fraglichen Zeitraum noch nicht zustande kam. Die vorliegenden Dokumente ergeben insoweit kein eindeutiges Bild. Das im Vermerk der HVA/III vom 16. Februar 1978 (Dok. Nr. 114) dokumentierte Herantreten des Vaters von Gregor Gysi an das MfS und der daraus folgende interne Schriftwechsel im MfS lassen keine eindeutigen Schlußfolgerungen zu.

Entgegen dem Vortrag des Abg. Dr. Gysi spricht jedoch der Sachstandsbericht der HVA/XI vom 17. Februar 1978 nicht gegen eine Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX des MfS im Zusammenhang mit Rudolf Bahro. Die hierin enthaltene Erklärung eines Mitarbeiters der für die "operative Sicherung" der Rechtsanwälte zuständigen HA XX/1 des MfS, an einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit Gysi nicht interessiert zu sein, ist nach Überzeugung des 1. Ausschusses ausschließlich im Zusammenhang mit der Nutzung Dr. Gysis "für eine Rechtsanwaltsanalyse im DDR-Maßstab" zu sehen und schließt eine anderweitige Nutzung Dr. Gysis durch andere Diensteinheiten der HA XX des MfS nicht aus.

6.1.2 Das Testament Rudolf Bahros

Während seiner Haft entwickelte Rudolf Bahro den Wunsch, ein Testament zu erstellen. Er besprach dieses mit Rechtsanwalt Dr. Gysi. In einem Vermerk der HA IX/2 vom 17. Juli 1978 (Dok. Nr. 145) wird dazu unter anderem ausgeführt: "Ausgehend von dem Ansinnen Bahros, ein Testament zu fertigen, unterbreitete ihm Rechtsanwalt Dr. Gysi, das Testament in Form eines Briefes abzufassen. Den Brief soll er an ihn richten." Nachdem Rudolf Bahro am 1. August 1978 durch die abschließende Entscheidung des Obersten Gerichtes der DDR zu 8 Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, besuchte Dr. Gysi Rudolf Bahro am 9. August 1978 in der Haft. Ein Mitarbeiter der Hauptabteilung IX/2 vermerkt unter dem 4. September 1978 über diesen Besuch (Dok. Nr. 147 [148]): "Inoffiziell wurde bekannt, daß Bahro am 9. August 1978 während des Sprechers mit seinem Rechtsanwalt Dr. GYSI 2 schriftliche Aufzeichnungen fertigte. Im einzelnen handelt es sich um ein Testament, in dem BAHRO verfügt, daß alle im Falle seines Ablebens während des Strafvollzuges sein Vermögen zu gleichen Teilen auf [..] Personen aufgeteilt wird. Genannt werden dabei [.. es folgen die Namen von vier der Erben, die in Dok. Nr. 147 geschwärzt sind]. Um wen es sich bei der [..] Person handelt, geht aus dem Gespräch nicht hervor. Zwischen BAHRO und Dr. GYSI wurde mehrmals versichert, daß beide niemand von dem Testament informieren wollen. Es wurde von Dr. GYSI entgegengenommen und er erklärte, es sicher aufzubewahren.

Das Testament soll nach der Haftentlassung von BAHRO hinfällig sein. Weiterhin fertigte BAHRO auf Drängen von Dr. GYSI ein Schreiben, in dem er erklärt, daß Dr. GYSI bevollmächtigt ist, auf eine Entlassung von BAHRO in die BRD hinzuarbeiten" [..]." Mit Datum vom 2. Oktober 1978 liegt eine "Information über ein geführtes Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi" der "Hauptabteilung XX" (Dok. Nr. 149) vor. In der "Information" wird folgendes ausgeführt: "Am 28. 9. 1978 wurde in der Wohnung von Rechtsanwalt Dr. Gysi auf dessen Wunsch ein weiteres Gespr äch geführt. Nachdem Dr. Gysi anfangs persönliche Dinge mitteilte, informierte er anschließend über folgende Probleme: Nach der Überführung seines Mandanten Bahro in die Strafvollzugsanstalt Bautzen II führte er mit ihm bisher ein Gespräch und erhielt am 5. 8. 1978 einen Brief von Bahro. Wichtigste Ergebnisse des Gesprächs waren: (..) Bahro hatte die Absicht, ein Testament zu erarbeiten, um die ihm zustehenden 200 000,00 Mark von der Europäischen Verlagsanstalt seiner Familie zukommen zu lassen.

Die daraufhin gestellte Frage von Gen. Gysi, ob er denn selbstmörderische Absichten hätte, verneinte er entschieden und erwiderte, daß 8 Jahre Haft eine lange Zeit wären und er ja nicht wisse, ob er diese überlebe. Bahro würde es lediglich darum gehen, daß er in den Besitz der Gelder von der EVA kommt, wobei er nach Einschätzung von Gen. Gysi auch mit einer Transferierung in die DDR bei einem Umrechnungswert von 1:1 einverstanden wäre. Nach Einschätzung des G. konnte er Bahro überzeugen, daß dieser Abstand von dem Testament nimmt. G. erklärte sich bereit, entsprechend den politischen und gesellschaftlichen Interessen entweder Bahro weiterhin zu beeinflussen, um die notwendigen Schritte bei der EVA zur Transferierung der Gelder in die DDR einzuleiten bzw. ihn von diesem Gedanken abzubringen.

"Abg. Dr. Gysi erklärt, Rudolf Bahro habe, wie sich aus dem Vermerk der HA IX vom 4. September 1978 ergebe, das Testament in seinem Beisein geschrieben und ihm in die Handakte übergeben. Er habe das Testament dann außerhalb der Handakten mehrere Jahre aufbewahrt und es Rudolf Bahro nach dessen Haftentlassung zurückgegeben. Abg. Dr. Gysi vermutet, daß sein am 9. August 1978 mit Rudolf Bahro unter vier Augen in der Untersuchungshaftanstalt geführte Gespräch abgehört worden sei. Die Verwendung des Wortes "Inoffiziell" im Vermerk der HA IX/2 vom 4. September 1978 (Dok. Nr. 147 [148]) erkläre er damit, daß die HA IX als Untersuchungsorgan formell keine Gespräche zwischen Verteidiger und Mandanten abhören durfte und deshalb derart erlangte Informationen als inoffiziell bezeichnen mußte.

Abg. Dr. Gysi bestreitet mit Bezug auf die "Information " der HA XX vom 2. Oktober 1978 (Dok. Nr. 149), am 28. September 1978 in seiner Wohnung ein Gespräch mit Angehörigen der HA XX des MfS über Rudolf Bahro geführt zu haben. Er habe über das Testament Rudolf Bahros lediglich mit einem Mitarbeiter der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED gesprochen, von dem er hiernach gefragt worden sei.

In diesem Gespräch habe er lediglich mitgeteilt, daß er Rudolf Bahro von der Abfassung eines Testaments habe abbringen können und auf die fehlende Suizidabsicht Rudolf Bahros hingewiesen. Aufgrund der Absprache mit Rudolf Bahro, niemanden über das Testament zu informieren, habe er der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED das Vorhandensein eines Testaments verschwiegen und sich an die Rudolf Bahro gegebene Zusage gehalten. Das Testament sei außerdem eine höchstpersönliche Angelegenheit Rudolf Bahros gewesen. Die Darlegungen mit Bezug auf ein Testament Rudolf Bahros in der Information der HA XX vom 2. Oktober 1978 erkläre er sich damit, daß das ZK der SED die HA XX des MfS über das mit ihm geführte Gespräch unterrichtet habe und die Information auf dieser Grundlage angefertigt worden sei.

Nach Auffassung des 1. Ausschusses beruhen die in dem Vermerk der HA IX/2 vom 4. September 1978 enthaltenen Informationen über das zwischen Dr. Gysi und Rudolf Bahro am 9. August 1978 geführte Gespräch5nicht auf einer inoffiziel e5 Information durch Dr. Gysi. Möglich erscheint dem 1. Ausschuß, daß der Vermerk auf einer Abhörmaßnahme - wie es der Abg. Dr. Gysi annimmt - oder einer inoffiziellen Mitteilung eines Zelleninformanten beruht.

Demgegenüber ist der 1. Ausschuß davon überzeugt, daß Dr. Gysi am 28. September 1978 auf eigenen Wunsch ein Gespräch mit Mitarbeitern der HA XX des MfS in seiner Wohnung geführt und Einzelheiten seines Gesprächs mit Rudolf Bahro vom 9. August 1978 der HA XX des MfS mitgeteilt hat. Dieses wird durch eine "Information" der HA XX vom 2. Oktober 1978 belegt. Ausweislich dieser Information hat Dr. Gysi detaillierte Informationen über Rudolf Bahro an die HA XX weitergegeben und eigene Einschätzungen über das künftig zu erwartende Verhalten Rudolf Bahros abgegeben. Er hat sich bereit erklärt, Rudolf Bahro entsprechend den politischen und gesellschaftlichen Interessen weiterhin zu beeinflussen.

Die Einlassung des Abg. Dr. Gysi, daß die Information der HA XX vom 2. Oktober 1978 in Wirklichkeit auf einer Mitteilung der Abteilung Recht und Staat des ZK der SED über ein Gespräch mit ihm beruhe, vermag der 1. Ausschuß nicht zu folgen. Wie bereits unter Ziffer 5.3. dargelegt worden ist, gab es zwischen dem MfS und der SED, respektive dem ZK-Apparat, keine inoffizielle Zusammenarbeit. Das Zusammenwirken zwischen MfS und SED erfolgte grundsätzlich auf offiziellem Wege. Offizielle Informationen des ZK der SED an das MfS sind nicht verschleiert und auch nicht als inoffizielle Informationen deklariert worden. Die Information der HA XX vom 2. Oktober 1978 (Dok. Nr. 149) weist jedoch keinen Hinweis auf, nach dem die Information der HA XX von der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED herrührt.

Unerheblich ist nach Auffassung des 1. Ausschusses, daß Gregor Gysi der HA XX am 28. September 1978 ausweislich der vorliegenden Information nicht mitteilte, daß Rudolf Bahro ihm bereits ein Testament überreicht hatte. Hier geht der 1. Ausschuß davon aus, daß sich Dr. Gysi insoweit an die entsprechende Absprache mit Rudolf Bahro gehalten hat. Allerdings hat Dr. Gysi die HA XX über die Überlegungen Rudolf Bahros im Zusammenhang mit der Errichtung eines Testaments unterrichtet und auch auf die fehlenden Selbstmordabsichten Rudolf Bahros hingewiesen.

Weiterhin hat Dr. Gysi der HA XX mitgeteilt, daß Rudolf Bahro für seine Familie in den Besitz eines ihm zustehenden Honorars in Höhe von 200 000,- Mark von der Europäischen Verlagsanstalt kommen wollte. Diese Informationen besaßen schon für sich - ungeachtet des tatsächlichen Vorhandenseins eines Testaments - einen eigenständigen Wert für die HA XX des MfS.

Nach Überzeugung des 1. Ausschusses steht somit fest, daß Dr. Gysi im Zusammenhang mit der Errichtung eines Testaments durch Rudolf Bahro am 28. September 1978 im Sinne der Feststellungskriterien des 1. Ausschusses inoffiziell Berichte und Angaben über Rudolf Bahro an die HA XX des MfS geliefert hat.

6.1.3 Notizen Rudolf Bahros im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Briefes im "Spiegel"

Ende Oktober 1978 wurde im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" ein Brief Rudolf Bahros aus der Haft veröffentlicht. Die Umstände der Herausschleusung des Briefes aus der Haft waren den staatlichen Stellen der DDR offenbar unbekannt. Unter dem 31. Oktober 1978 hat die HA IX/2 dazu einen "Plan zur Aufklärung der Hintergründe und Zusammenhänge der Veröffentlichung eines angeblichen Briefes des Strafgefangenen BAHRO im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel"" entwickelt (Dok. Nr. 150 ( 151, 152, 153, 154)). Im Zusammenhang mit den darin vorgesehenen "Maßnahmen zur Aufklärung des Zustandekommens der vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" vorgenommenen Veröffentlichung" wird festgehalten: "Besuchs- und Briefkontakt während der Untersuchungshaft hatte BAHRO zu seiner geschiedenen Ehefrau Dr. Gundula BAHRO und Rechtsanwalt Dr. Gysi. Durch die HA XX/OG sind die vorhandenen operativen Möglichkeiten zu nutzen, um zu prüfen, inwieweit diese Personen mit der Veröffentlichung des BAHRO-Briefes im Zusammenhang stehen."

In einem von Major Lohr unterzeichneten "Bericht" der "Hauptabteilung XX/OG" vom 7. Dezember 1978 (Dok. Nr. 1 158, [161]) "über ein geführtes Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi" wird über eine Besprechung Dr. Gysis mit Rudolf Bahro mitgeteilt: "Am 6.12.1978 wurde mit Gen. Gysi in seiner Wohnung ein weiteres Gespräch geführt. Er berichtete über die am 2.12.1978 erfolgte Aussprache mit Bahro in der Haftanstalt Bautzen, deren Inhalt er im Extrakt auf Tonband sprach (Tonbandabschrift siehe Anlage  [159, 160 - Anm. RS]). In Ergänzung zu diesem Bericht teilte er folgendes mit: (..). Die während des Gesprächs von Bahro auf den Zettel des Gen. Gysi aufgeschriebenen Notizen - "Ich habe eine Meldung nach drüben lanciert, die eine Berichtigung der ADN-Nachricht über meine Verurteilung darstellt" und "ich hoffe, das finanzielle Problem für die Kinder gelöst zu haben - brauche also für den Unterhalt der Kinder im Strafvollzug durch körperliche Arbeit - nicht zu sorgen ['];.beziehen sich nach Einschätzung von G. auf

  • den aus der Haft geschmuggelten Brief von Bahro ("Spiegel' Nr. 44/78, "Brief aus der Haft'),

  • die Einbeziehung eines Häftlings in die finanziellen Angelegenheiten betreffs der durch die "Europäische Verlagsanstalt" Köln für Bahro hinterlegten Gelder, in dem er einen Häftling beauftragt hat oder beauftragen wird, durch Vollmacht von ihm in den Besitz dieser Summe oder eines Teils zu kommen und an die Familie des Bahro zu übergeben.

"Abschließend wird im Bericht vom 7. Dezember 1978 ausgeführt: "Alle anderen Forderungen Bahros wird er mit uns abstimmen, bevor er diesbezügliche Schritte einleitet. Als Verhandlungspartner schlug er Staatsanwalt Gläßner vor. Gen. Gysi beabsichtigt, im Februar oder März 1979 Bahro erneut aufzusuchen. Es wird vorgeschlagen, das weitere Vorgehen von Rechtsanwalt Gysi mit der Hauptabteilung IX/2 zu beraten."

Als Anlage zum Bericht vom 7. Dezember 1978 liegt eine Tonbandabschrift gleichen Datums vor (Dok. Nr. 2 (159, 160)). Die Tonbandabschrift enthält im Kopf die Angabe "Hauptabteilung XX", trägt die Quellenbezeichnung "IM-Vorl. "Gregor'" sowie den Vermerk "entgegengenommen: Major Lohr am 6.12.1978". In der Tonbandabschrift wird über das Gespräch zwischen Rudolf Bahro und Dr. Gysi am 2. Dezember 1978 unter anderem folgendes ausgeführt: "Aus Furcht, daß das Gespräch abgehört werden könnte, notierte er auf meinem Zettel, daß er bereits eine Meldung nach drüben lanciert habe, die eine Berichtigung der ADN-Nachricht über seine Verurteilung darstellen würde." In der Tonbandabschrift finden sich abschließend auch folgende Ausführungen: "Letztlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß er während des Gesprächs einige Male hintereinander anfing, mich zu duzen. Ich bin darauf nicht eingegangen und habe ihn weiterhin mit "Sie' angesprochen.

Letztlich ist er dann auch mir gegenüber wieder zum 'Sie' übergegangen. Ich hatte ihn auf das Ungehörige des 'Du' nicht hingewiesen, um keinen Mißklang in die Atmosphäre hineinzubringen. Mir schien es zu genügen, daß ich darauf nicht eingehe." Nach dem vorliegenden Wortprotokoll vom 2. Dezember 1978 (Dok. Nr. 155 [156, 157]) über das Gespräch zwischen Rudolf Bahro und Dr. Gysi redete Dr. Gysi Bahro durchgehend mit "Sie" an, während Rudolf Bahro am Anfang und Ende des Gesprächs das "Sie" gebrauchte, zwischenzeitlich aber die direkte Anrede unterließ, jedoch nicht das "Du" verwandte.

In diesem Wortprotokoll (Dok. Nr. 155 [156, 157]) wird außerdem an einer Stelle des Protokolls eine "längere Pause, Papiergeraschel" vermerkt, an einer anderen "B schreibt etwas auf". Diese Feststellung wird später noch zweimal wiederholt.

Am 17. Januar 1979 suchte Dr. Gysi den Staatsanwalt Dr. Gläßner auf und trug diesem die weiteren Anliegen Rudolf Bahros vor. In einem dazu von Staatsanwalt Dr. Gläßner erstellten Vermerk gleichen Datums (Dok. Nr. 162) heißt es dazu: "Am 17.1.1979 erschien Herr RA Dr. Gysi und trug die nachfolgenden Beschwerden des Strafgefangenen Bahro vor, die ihm anläßlich eines Besuchs des Bahro im Dezember vorgetragen wurden. (..)" Mit Bezug auf den Brief Bahros im "Spiegel" wird ausgeführt: "In dem mit Dr. Gysi geführten Gespräch erhielt ich noch folgende Informationen: Bahro habe erklärt, daß der in der Westpresse veröffentlichte Brief - Richtigstellung über ADN-Meldung - von ihm sei." In seinem Vermerk verfügt Staatsanwalt Dr. Gläßner unter Punkt 3: "Durchschlag an U-Organ zur Vorbereitung der erforderlichen Abstimmung." Abg. Dr. Gysi trägt vor, daß Rudolf Bahro ihm während seines Besuchs in der Haftanstalt am 2. Dezember 1978 zwei Mitteilungen in seine Handakte hineingeschrieben habe. Hierüber habe er am 6. Dezember 1978 einen Mitarbeiter der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED - allerdings nicht wörtlich - informiert.

In der Anhörung am 21. April 1998 erläuterte der Abg. Dr. Gysi, daß die Schilderungen von Gesprächseindrücken von ihm stammten, da er in Gesprächen mit Herrn Gefroi von der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED seine persönlichen Gesprächseindrücke geschildert habe und möglicherweise auch gesagt habe, daß "er das Gefühl hatte" oder, daß "er der Meinung sei". Den Bericht der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 erkläre er sich damit, daß die Abteilung Staat und Recht im ZK der SED das MfS unterrichtet habe und daraufhin der Bericht gefertigt worden sei. Abg. Dr. Gysi erläuterte in der Anhörung vom 21. April 1998, daß der Mitarbeiter des ZK der SED über Gespräche mit ihm umfangreiche Vermerke gefertigt habe, die an seinen Vorgesetzten gegangen seien und von dort zur Abteilung Sicherheit des ZK der SED. Die Abteilung Sicherheit im ZK der SED habe wohl wiederum das MfS unterrichtet. Der Bericht der HA XX beruhe insofern nicht auf einem Gespräch, welches er nach Darstellung des Berichts am 6. Dezember 1978 mit dem MfS-Offizier Lohr geführt haben soll. Den MfS-Offizier Lohr habe er lediglich im Jahre 1980 als "Staatsanwalt Lohse" kennen gelernt. Der angebliche Staatsanwalt habe sich einige Male einen Termin unter dem Vorwand bei ihm verschafft, ihn für eine Untersuchung über den Schaden bzw. den Nutzen von Verfahren gegen Oppositionelle zu gewinnen.

Danach habe sich der angebliche Staatsanwalt "Lohse" nicht mehr bei ihm gemeldet. Erst nach der Wende habe er erfahren, daß der Staatsanwalt "Lohse" in Wirklichkeit der MfS-Offizier Lohr gewesen sei.

Abg. Dr. Gysi führt weiter aus, daß Rudolf Bahro, in Abweichung zur Darstellung im Bericht der HA XX/ OG vom 7. Dezember 1978, tatsächlich in seine Handakte hineingeschrieben habe: "Ich habe das, was zur Richtigstellung der ADN-Meldung nötig, wahrscheinlich drüben." und "Ich hoffe, das Finanzielle für Gundula bald geklärt zu haben, so daß ich wegen Geld nicht viel arbeiten müßte." Der Abg. Dr. Gysi hat dem 1. Ausschuß während der Anhörung am 12. Juni 1997 in Kopie zwei handschriftliche Notizen überreicht, von denen er angibt, es handele sich um diejenigen, die ihm Rudolf Bahro seinerzeit in die Handakte geschrieben habe. Abg. Dr. Gysi meint, daß der MfS-Offizier Lohr als Verfasser des Berichts vom 7. Dezember 1978 einen Informanten gehabt haben müsse, der sich die Notizen Rudolf Bahros zwar kurz habe ansehen können, sie aber nicht wörtlich abschreiben konnte. Ergänzend erläutert der Abg. Dr. Gysi, daß Rudolf Bahro zum Zeitpunkt des Gesprächs am 2. Dezember 1978 noch nicht gewußt habe, ob der Kassiber den "Spiegel" erreicht habe.

Er habe Bahro zu verstehen gegeben, daß die Veröffentlichung bereits stattgefunden habe. Rudolf Bahro habe das Interesse gehabt, nach Beendigung des Strafvollzugs die DDR zu verlassen und in die Bundesrepublik überzusiedeln sowie diesen Wunsch als wirklich von ihm ausgehend zu bestätigen. Mit der Bestätigung des Kassibers sei klar gewesen, daß dieser Wunsch auf Bahros eigener Entscheidung beruhe, was eine positive Prüfung seines Ausreiseantrages erleichtert habe. Ähnliches gelte auch für die Notiz über die finanziellen Angelegenheiten Rudolf Bahros. Mit dieser Notiz habe erreicht werden sollen, daß Rudolf Bahro von körperlicher Arbeit im Strafvollzug freigestellt werde. Dies habe nur gelingen können, wenn den betreffenden Organen bekannt gewesen sei, daß keine offenen Unterhaltsfragen bestünden. Abg. Dr. Gysi erklärt, er sei mit dem Kassiber Rudolf Bahros stets offen umgegangen. Wie sich aus dem Vermerk des Staatsanwalts Dr. Gläßner (Dok. Nr. 162) ergebe, habe er diesen hierüber offiziell informiert und nicht etwa heimlich die Staatssicherheit.

Aus dem Lageplan der HA IX/2 vom 31. Oktober 1978 (Dok. Nr. 150) ergebe sich demgegenüber, daß das MfS auch ihn verdächtigt habe, den Brief Rudolf Bahros aus der Haftanstalt geschmuggelt zu haben, was dagegen spreche, daß er aus Sicht des MfS ein zuverlässiger Informant gewesen sei.

Der 1. Ausschuß ist auf Grundlage der vorliegenden Dokumente davon überzeugt, daß Gregor Gysi am 6. Dezember 1978 die HA XX/OG des MfS inoffiziell über seine Aussprache mit Rudolf Bahro am 2. Dezember 1978 in der Haftanstalt Bautzen II und über die von diesem während des Gesprächs gefertigten Notizen unterrichtet hat. Ausweislich des Berichts der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 hat Dr. Gysi bei einem am 6. Dezember 1978 in seiner Wohnung geführten Gespräch der HA XX/OG ausführlich Einzelheiten der Aussprache mit Rudolf Bahro mitgeteilt und den Inhalt im Extrakt auf Tonband gesprochen.

Dr. Gysi hat besonders vertrauliche Notizen Rudolf Bahros (Brief an den "Spiegel", finanzielle Angelegenheiten) mitgeteilt, die Rudolf Bahro während des Gesprächs in der Haftanstalt aufgeschrieben hatte, damit sie nicht abgehört werden konnten. Das Abhörprotokoll vermerkt dementsprechend auch mehrfach "längere Pause, Papiergeraschel" und "B. schreibt etwas auf". Anläßlich des Gesprächs am 6. Dezember 1978 hat sich Dr. Gysi weiterhin bereit erklärt, alle anderen Forderungen Rudolf Bahros vor Einleitung weiterer Schritte mit der HA XX/OG abzustimmen.

Er schlug als Verhandlungspartner den Staatsanwalt Dr. Gläßner vor. Entsprechend dieser Absprache suchte Dr. Gysi ausweislich eines Vermerks des Staatsanwalts Dr. Gläßner diesen tatsächlich am 17. Januar 1979 auf und besprach mit diesem die anderen Forderungen Rudolf Bahros. Die in dem Bericht der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 festgehaltene Absprache wurde insoweit eingehalten.

Zudem kündigte Dr. Gysi der HA XX/OG frühzeitig seinen nächsten Besuch bei Rudolf Bahro für die Monate Februar oder März 1979 an.

Insbesondere die dem Bericht der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 als Anlage beigefügte Tonbandabschrift über die Aussprache zwischen Rudolf Bahro und Gregor Gysi belegt nach Auffassung des 1. Ausschusses die inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX des MfS. Aufgrund des entsprechenden Verweises im Bericht der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 sind der Bericht und die Tonbandabschrift miteinander verknüpft. Die Tonbandabschrift trägt die Quellenangabe "IM-Vorl. Gregor". Sie wurde in der Ich-Form abgefaßt und enthält eine detailreiche und mit persönlichen Einschätzungen versehene Schilderung des Gesprächs mit Rudolf Bahro.

Der 1. Ausschuß hat keine vernünftigen Zweifel, daß Dr. Gysi das zugrunde liegende Tonband selbst besprochen hat und am 6. Dezember 1978 ausweislich des Berichts vom 7. Dezember 1978 dem MfS-Offizier Lohr übergeben hat. Hierfür spricht auch, daß Dr. Gysi in der Tonbandabschrift ausdrücklich die angeblich von Rudolf Bahro gewählte "Du-Anrede" während des Gesprächs bemängelte. In einem offiziellen Gespräch - etwa in der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED - wäre dieser Hinweis unnötig gewesen.

Dem Vortrag des Abg. Dr. Gysi, daß er am 6. Dezember 1978 in einem Gespräch mit einem Mitarbeiter der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED Einzelheiten der Aussprache mit Rudolf Bahro vom 2. Dezember 1978 mitgeteilt habe und die HA XX/ OG vom ZK der SED informiert worden sei, kann der 1. Ausschuß nicht folgen. Die dem 1. Ausschuß vorliegenden Dokumente enthalten hierfür keine Anhaltspunkte.

Gegen die Einlassung des Abg. Dr. Gysi spricht auch die in sich schlüssige Darstellung des Gesprächs zwischen Dr. Gysi und Rudolf Bahro im Bericht der HA XX vom 7. Dezember 1978 und der dazugehörigen Tonbandabschrift. Diese Darstellung kann nur von Dr. Gysi als Gesprächspartner Rudolf Bahros herrühren. Außerdem wäre die Anfertigung eines Berichts und einer dazugehörigen Tonbandabschrift über die Aussprache von Dr. Gysi mit Rudolf Bahro unverständlich, wenn die Informationsübermittlung, wie der Abg. Dr. Gysi vorträgt, über das ZK der SED erfolgt sein sollte. Der Abfassung eines Treffberichtes durch die HA XX/OG und der gleichzeitigen Aufnahme eines Tonbandes, in der eine Gesprächsführung mit Dr. Gysi dargestellt wird, hätte es in einem solchen Fall nicht bedurft. Gerade die Abfassung einer Tonbandabschrift belegt nach Ansicht des 1. Ausschusses, daß es der HA XX/OG auf eine authentische Darstellung durch Dr. Gysi selbst ankam.

Weiterhin spricht gegen eine Informationsübermittlung über das ZK der SED an das MfS, daß - wie auch Dr. Gysi selbst ausführt - allein im ZK der SED der Dienstweg über mehrere Hierachieebenen einzuhalten war. Angesichts der nur wenigen Tage zwischen dem Gespräch Gregor Gysis mit Rudolf Bahro und der Abfassung des Berichts der HA XX/OG überzeugt den 1. Ausschuß eine derartige Informationsübermittlung auch aus diesem Grunde nicht. Hinzu kommt, daß in dieser kurzen Zeit die Informationen Dr. Gysis an das ZK der SED in einen Bericht der HA XX/OG und eine dazugehörige Tonbandabschrift umgearbeitet werden mußten, was als kaum durchführbar erscheint.

Dieser Zusammenhang belegt nach Auffassung des 1. Ausschusses auch, daß der MfS-Offizier Lohr Gregor Gysi seit 1978 bekannt gewesen sein mußte.

Nach Überzeugung des 1. Ausschusses läßt sich die Behauptung Dr. Gysis, er habe lediglich im Jahre 1980 in einem anderen Zusammenhang einen Staatsanwalt Lohse getroffen, von dem er erst später erfahren haben will, daß es sich um Lohr handelte, aufgrund der aufgefundenen Dokumente nicht aufrechterhalten.

Dieser Vortrag des Abg. Dr. Gysi muß als Schutzbehauptung gewertet werden. Dr. Gysi mußte aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Rechtsanwaltskollegium Berlin wissen, daß der MfS-Offizier Lohr kein Mitarbeiter der DDR-Justiz oder des Untersuchungsorgans des MfS gewesen sein konnte. Offen muß allerdings bleiben, ob Dr. Gysi den MfS-Offizier Lohr unter seinem richtigen Namen oder als "Lohse" gekannt hat. Auf letzteres deutet insbesondere ein als "WKW-Übersicht" bezeichnetes Dokument (Dok. Nr. 91) aus der IM-Vorlauf-Akte "Gregor" hin. Hier taucht unter der Rubrik "Mitarbeiter, die den IM/ GMS persönlich kennen bzw. dem IM/GMS persönlich bekannt sind" der Name "Lohr, Günter" auf. Unter der Spalte "dem IM/GMS bekannt als" ist der Name "Lohse" vermerkt. Demgemäß geht der 1. Ausschuß davon aus, daß die in einem Bericht und einer dazugehörigen Tonbandabschrift aufgefundenen Informationen nur von einer einzigen Quelle stammen können und es sich nicht um eine gebündelte Information aus verschiedenen Quellen (Einsatz mehrerer IM, Abhörmaßnahmen, Postkontrolle, Beobachtung) oder eine Sammlung daraus resultierender Erkenntnisse handelt. Dagegen spricht, daß die Tonbandabschrift den Inhalt der Gespräche Dr. Gysis mit Rudolf Bahro in allen Einzelheiten wiedergibt und die in sich schlüssige Abfolge der Inhalte. Bestätigt wird dieses durch den engen zeitlichen Zusammenhang der Informationsübermittlung an das MfS innerhalb weniger Tage nach dem Gespräch Dr. Gysis mit Rudolf Bahro.

Insofern sprechen auch die vom Abg. Dr. Gysi vorgebrachten Unterschiede zwischen der Wiedergabe der Notizen Rudolf Bahros im Bericht der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 und den - nach Angaben des Abg. Dr. Gysi - Originalnotizen Rudolf Bahros nicht gegen eine inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/OG. Die Ungenauigkeiten der Wiedergabe der Notizen Rudolf Bahros im Bericht der HA XX/ OG vom 7. Dezember 1978 lassen sich zwar nicht eindeutig erklären. Nach Auffassung des 1. Ausschusses steht jedoch aufgrund des Berichts der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 fest, daß Dr. Gysi ausführlich über das Gespräch mit Rudolf Bahro und über die von diesem gefertigten Notizen berichtet hat. Dafür, daß die abweichende Wiedergabe der Notizen Rudolf Bahros im Bericht der HA XX/OG - wie es der Abg. Dr. Gysi vorträgt - bei der Einsichtnahme in Vermerke Dr. Gysis durch einen Dritten entstanden sind, finden sich keinerlei Hinweise.

Die Erwähnung Dr. Gysis im Plan der HA IX/2 vom 31. Oktober 1978 (Dok. Nr. 150) zur Aufklärung der Zusammenhänge der Veröffentlichung des Bahro-Briefes spricht nicht gegen eine Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/OG. Hierbei ist auch die voneinander grundsätzlich unabhängige Stellung der Hauptabteilungen des MfS zu berücksichtigen. Zudem hatte die HA IX im Hinblick auf das Prinzip der Konspiration und Verschleierung auch innerhalb des MfS keine Kenntnisse darüber, wer von der HA XX als IM geführt wurde. Der Plan der HA IX vom 31. Oktober 1978 verdeutlicht jedoch die besondere Rolle der HA XX/OG im Verhältnis zu Rudolf Bahro.

In dem Plan war ausdrücklich vorgesehen, daß durch die HA XX/OG die vorhandenen operativen Möglichkeiten zu nutzen sind. Eine aktive Rolle der HA XX/OG im Verhältnis zu Rudolf Bahro ist damit belegt.

Insgesamt kommt der 1. Ausschuß zu der Überzeugung, daß Dr. Gysi auch im Zusammenhang mit den Notizen Rudolf Bahros inoffiziell Berichte und Angaben über diesen im Sinne der Feststellungskriterien des 1. Ausschusses an die HA XX/OG des MfS geliefert hat. Der Einwand des Abg. Dr. Gysi, daß er hierüber am 17. Januar 1979 auch den Staatsanwalt Dr. Gläßner informiert hatte, schließt dieses nicht aus, da dieses Gespräch erst nach Abstimmung mit der HA XX/OG des MfS am 6. Dezember 1978 erfolgte.

6.1.4 Bestellter Brief

Mit Datum vom 19. Januar 1979 liegt ein vom MfS-Offizier Lohr unterzeichneter "Bericht" der "Hauptabteilung XX/OG" über "ein geführtes Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi" (Dok. Nr. 16 (163, 164) vor.

Hierin wird u.a. ausgeführt: "Am 18.1.1979 wurde mit Gen. Gysi in seiner Wohnung ein weiteres Gespräch geführt. Er informierte über ein Gespräch (..) und einen Brief, welchen er von Rudolf Bahro erhielt.

(..) Gen. Gysi informierte des weiteren über einen am 16.1.1979 von Rudolf Bahro erhaltenen Brief, in dem B. um eine dringende Aussprache bittet. Bahro schreibt, daß "plötzlich eingetretene, unerwartete Umstände" eine dringende Konsultierung erforderlich machen. Entsprechend der letzten Vereinbarung wurden die von Bahro an Gen. Gysi gestellten Forderungen betr. besserer Haftbedingungen an Staatsanwalt Gläßner weitergeleitet. Eine Antwort steht noch aus. Nach Abstimmung mit der HA IX wird Gen. Gysi Bahro schriftlich mitteilen, daß er die Antwort des Staatsanwaltes abwartet und ein erneuter Besuch Ende Februar/Anfang März 1979, bedingt durch einen 14tägigen Urlaub, stattfindet." Kurz danach hat Dr. Gysi unter dem Datum vom 23. Januar 1979 in einem Brief an Rudolf Bahro geschrieben (Dok. Nr. 166): "(..) Ihre weiteren Probleme habe ich mit dem Staatsanwalt Dr. Gläßner beim Generalstaatsanwalt der DDR besprochen. Eine Entscheidung wurde mir für den Monat Februar 1979 zugesichert. (..) Am 3. 2. 79 begebe ich mich in einen Urlaub. Am 20. 2. 1979 bin ich wieder zurück. Danach werde ich erneut mit dem Staatsanwalt sprechen und Sie aufsuchen. Wenn dennoch eine sofortige Rücksprache (zumindest unmittelbar nach dem Urlaub) erforderlich ist, bitte ich um Ihren raschen Bescheid." Abg. Dr. Gysi bestreitet, daß der MfS-Offizier Lohr, den er zum hier fraglichen Zeitpunkt nicht gekannt habe, den Inhalt des Briefes vom 23. Januar 1979 an Rudolf Bahro festgelegt habe. Der Bericht der HA XX/OG vom 19.Januar 1979 könne auch so verstanden werden, daß Lohr über einen geplanten Brief informiert worden sei. Abg. Dr. Gysi meint, daß die Verfügung des Staatsanwalts Dr. Gläßner vom 17. Januar 1979 (Dok. Nr. 162) ihn entlaste. Aus der Verfügung ergebe sich, daß er an diesem Tag ein Gespräch mit dem Staatsanwalt Dr. Gläßner und nicht mit dem MfS-Offizier Lohr geführt habe. Staatsanwalt Dr. Gläßner habe ihn darüber informiert, daß er mit seiner Entscheidung über die Beschwerden Rudolf Bahros "frühestens etwa Mitte Februar" rechnen könne. Gemäß Ziffer 3 seiner Verfügung habe Staatsanwalt Dr. Gläßner die "erforderliche Abstimmung" mit dem "U-Organ", d.h. der HA IX des MfS vornehmen wollen (Stellungnahme vom 17. Juni 1997). Der 1. Ausschuß hat keine vernünftigen Zweifel, daß Dr. Gysi den Brief vom 23. Januar 1979 an Rudolf Bahro so abgefaßt hat, wie er es zuvor mit Major Lohr von der HA XX/OG abgesprochen hat. Dieses wird durch den Bericht der HA XX/OG vom 19. Januar 1979 dokumentiert. Ausweislich dieses Berichts hat Dr. Gysi anläßlich eines am 18. Januar 1979 in der Wohnung Dr. Gysis durchgeführten Gesprächs die Beantwortung eines Briefes von Rudolf Bahro mit der HA XX/OG abgestimmt. In Übereinstimmung mit der Absprache führte Dr. Gysi im Brief vom 23. Januar 1979 an Rudolf Bahro aus, daß hinsichtlich der Haftbedingungen Rudolf Bahros eine Entscheidung des Staatsanwalts Dr. Gläßner abgewartet werden sollte. Dr. Gysi teilte Rudolf Bahro zudem absprachegemäß mit, daß er ihn nach Beendigung seines Urlaubs besuchen wolle.

Die Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/OG wird nach Ansicht des 1. Ausschusses in diesem Zusammenhang besonders deutlich. Nachdem, laut Bericht der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 (Dok. Nr. 1 (158, [161 ]), zwischen Dr. Gysi und der HA XX/ OG abgesprochen worden war, daß Dr. Gysi zu den Haftbedingungen Rudolf Bahros Verhandlungen mit dem Staatsanwalt Dr. Gläßner aufnehmen sollte, suchte Dr. Gysi den Staatsanwalt ausweislich eines von diesem gefertigten Vermerks am 17. Januar 1978 tatsächlich auf und besprach mit diesem unter anderem die Haftbedingungen Rudolf Bahros. Mit Datum vom 19. Januar 1979 liegt ein Bericht der HA XX/OG über ein am 18. Januar 1978 mit Dr. Gysi geführtes Gespräch vor. In diesem Bericht wird unter Bezugnahme auf die Vereinbarung vom 7. Dezember 1978 berichtet, daß die Forderungen Rudolf Bahros zwischenzeitlich an den Staatsanwalt Dr. Gläßner weitergeleitet worden seien, was Dr. Gysi nach dem Vermerk des Staatsanwalts Dr. Gläßner vom 17. Januar 1979 tatsächlich getan hat. Im Bericht vom 19. Januar 1979 wird zudem dokumentiert, daß Dr. Gysi Rudolf Bahro schriftlich mitteilen sollte, daß Dr. Gysi die Antwort des Staatsanwalts zu den Hafterleicherungen abwartet und Rudolf Bahro Ende Februar/Anfang März 1979 besuchen sollte. Am 23. Januar 1979 schrieb Dr. Gysi dieses in einem Brief an Rudolf Bahro.

Diese in sich schlüssige Abfolge von Absprachen und Tätigkeiten belegt nach Überzeugung des 1. Ausschusses die inoffizielle Tätigkeit Dr. Gysis für die HA XX/OG des MfS. Dr. Gysi hat Angaben und Berichte über Rudolf Bahro an den MfS-Offizier Lohr von der HA XX/OG geliefert und sein Verhalten gegen über Rudolf Bahro und der Staatsanwaltschaft mit der HA XX/OG abgestimmt. Ausweislich des Vermerks des Staatsanwalts Dr. Gläßner vom 17. Januar 1979 hat Dr. Gysi zumindest an diesem Tage selbst mit der Staatsanwaltschaft ein Gespräch im Zusammenhang mit den Haftbedingungen Rudolf Bahros geführt. Insoweit trifft auch die Einlassung des Abg. Dr. Gysi nicht zu, daß ihn die Verfügung des Staatsanwalts Dr. Gläßner vom 17. Januar 1979 entlaste. Das Gespräch Dr. Gysis mit der HA XX/OG fand ausweislich des Berichts auf Dok. Nr. 16 (163, 164) und entgegen dem Vortrag des Abg. Dr. Gysi erst am 18. Januar 1979, also einen Tag nach dem Gespräch mit Staatsanwalt Dr. Gläßner, statt.

Zur Überzeugung des 1. Ausschusses steht auch im Zusammenhang mit dem Brief an Rudolf Bahros fest, daß Dr. Gysi Berichte und Angaben über Rudolf Bahro an die HA XX/OG des MfS geliefert hat.

6.1.5 Haftbedingungen Rudolf Bahros/Vorschläge gegen den "Veröffentlichungstrieb"

Im Zusammenhang mit den Ende des Jahres 1978/ Anfang 1979 von Rudolf Bahro erhobenen Forderungen zur Verbesserung seiner Haftbedingungen liegt mit Datum vom 21. Februar 1979 ein vom MfS-Offizier Reuter unterzeichneter Bericht der Hauptabteilung XX/OG "über ein Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi" vor (Dok. Nr. 17 (167, 168)). In diesem Bericht wird unter Punkt 2. ausgeführt: "Dr. Gysi beabsichtigt, Bahro am 3. 3. 79 in der Strafvollzugsanstalt Bautzen aufzusuchen. Er bat um Klärung, daß der Termin realisiert werden kann sowie Entscheidung, ob er das Gespräch mit Bahro ohne Aufsicht führen soll bzw. kann. Bahro erwartet bei diesem Gespräch Antworten auf seine Forderungen, die er beim letzten Gespräch mit Gysi vorgetragen hatte. (Bereitstellung eines Radios, einer Schreibmaschine usw.) Gen. Gysi ist gegenwärtig noch bemüht, eine Antwort darauf bei der Staatsanwaltschaft einzuholen. Staatsanwalt Gläßner hatte ihm erklärt, daß er einen anderen Staatsanwalt (Krüger o.ä.) veranlaßt habe, sich mit Dr. Gysi in Verbindung zu setzen." Weiter heißt es unter Punkt 4. in dem Bericht: "Auf die Frage von Dr. Gysi, wie er im Falle einer Anfrage von Bahro hinsichtlich seiner neuesten Spiegelveröffentlichung reagieren soll, wurde ihm empfohlen, Bahro gegenüber diese Veröffentlichung nicht zu bestätigen. Um sich von Bahro früher oder später nicht als Lügner bezeichnen zu lassen, wird er bei einer direkten Anfrage sinngemäß antworten, daß in westlichen Medien viel veröffentlicht wird, wobei man nicht immer klar unterscheiden könne, was davon frei erfundene Meldungen sind." Der Bericht endet u.a. mit dem Vorschlag "über die HA IX abzusichern, daß der vorgesehene Besuchstermin realisiert werden kann und entschieden wird, ob das Gespräch des Rechtsanwaltes mit Bahro mit oder ohne Aufsicht geführt werden soll" und " bei der Generalstaatsanwaltschaft zu veranlassen, daß Rechtsanwalt Dr. Gysi vor dem 3.3.79 die Antworten auf seine Anfrage erhält, die er Bahro übermitteln kann (..)".

Am 10. März 1979 fand zwischen Gregor Gysi und Rudolf Bahro ein Gespräch in der Haftanstalt Bautzen II unter Aufsicht statt. Das MfS erstellte hierüber ein Wortprotokoll (Dok. Nr. 172 [174]), aus dem sich der folgende Hinweis Dr. Gysis ergibt (Seite 18): "Na [,] es ist nicht üblich, daß Strafgefangene ohne Kontrolle sich außerhalb des Strafvollzugs schriftlich äußern." Bahro antwortete darauf unter anderem, daß er sich durch eine verleumderische Zeitungsmeldung zu diesem Schritt veranlaßt sah. Er könne sich nicht in dieser Frage "genauso freundlich und höflich und sozusagen hinnehmend verhalten" wie er es "in allen Sachen des Gefängnisregimes hier mache." In "irgendeiner Weise muß das natürlich richtig gestellt werden." (Dok. Nr. 172 [174], Seite 19). Während des Gesprächs fertigte ein anwesender MfS-Mitarbeiter unter anderem eine handschriftliche Notiz (Dok. Nr. 173), in der es heißt: "Gysi teilt ihm [Anm.: Rudolf Bahro] vorsichtig mit, daß Brief drüben veröffentlicht.

"Kurze Zeit nach dem Gespräch Dr. Gysis mit Rudolf Bahro liegt ein Bericht der "Hauptabteilung XX" vom 15. März 1979 "über ein geführtes Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi" vor, nach dem am 13. März 1979 "mit Rechtsanwalt Dr. Gysi in seiner Wohnung ein weiteres Gespräch geführt" wurde: "Er informierte über die am 10.3.1979 erfolgte Aussprache mit Bahro in der Haftanstalt Bautzen II, deren Inhalt er im Extrakt auf Tonband sprach (Anlage) (..)." (Dok. Nr. 4 (175, [176, 177]). Die zugehörige Tonbandabschrift vom 14. März 1979 (Dok. Nr. 3 (169, [170, 171]) der "Hauptabteilung XX/OG" gibt als Quelle "IM-Vorlauf "Gregor"" an und enthält den Vermerk "entgegengenommen Major Lohr, 13.3.1979". Zunächst wird über ein Gespräch zwischen Dr. Gysi und dem Staatsanwalt Kunze am 9. März 1979 zu Hafterleichterungen für Rudolf Bahro sowie zu der von Dr. Gysi am 10. März 1979 vorgenommenen Aussprache mit Rudolf Bahro berichtet. Am Ende der in Ich-Form gehaltenen zehnseitigen Tonbandabschrift werden u.a. folgende Überlegungen angestellt: "Zu den dargelegten Problemen gibt es meinerseits folgende, kurze Überlegungen: 1. Ich bin nicht in der Lage, ihm ernsthafte Argumente zu nennen, die ihn an seinem Veröffentlichungstrieb hindern, wenn ich nicht allein mit ihm sprechen kann. Meines Erachtens gibt es auch neben einer sicherlich nicht möglichen vollständigen Isolierung, die praktisch solche Korrespondenzen verhindert, nur 2 Wege, ihn an Veröffentlichungen zu hindern (..) 2. Ich bin der Meinung, daß es nicht auf Dauer haltbar ist, ihm bestimmte Vergünstigungen zu streichen, ohne die eigentliche Begründung dafür zu nennen. Auf diese Art und Weise muß er wirklich glauben, daß bestimmte Einschränkungen einzig und allein damit zusammenhängen, daß er weitergehendere Forderungen gestellt hat. (..) Dies bringt als Gefahr mit, daß er versuchen wird, mittels eines Kassibers sich nunmehr in der Westpresse über die Haftbedingungen zu beschweren. Da er in seinen bisherigen Veröffentlichungen stets betont hat, daß er korrekt behandelt wurde, ist die "Glaubwürdigkeit" einer solchen Auskunft seitens Bahro besonders hoch. Wenn er dagegen wüßte, womit die Einschränkungen zusammenhängen, kann man besser auf ihn einwirken und im übrigen würde er die Einschränkungen dann auch besser verstehen. (..) 3. Soweit es Einschränkungen gibt, bin ich der Meinung, daß sie niemals gegen das Gesetz erfolgen sollten. Wir haben es weder nötig, noch ist es gerechtfertigt, solche Einschränkungen vorzunehmen. (..). Letztlich bin ich auch der Meinung, daß ihm eine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt werden sollte; dies erleichtert eine Kontrolle seiner schriftlichen Aufzeichnungen und würde im übrigen auch rechtfertigen, weshalb ihm nur noch Schreibmaschinenpapier und keine eigenen Stifte zur Verfügung gestellt werden können, so daß das Anfertigen von Kassibern wesentlich erschwert wäre. Andererseits wäre einem Wunsch von ihm Rechnung getragen worden, so daß er sich darüber nicht beschweren kann. Letztlich hätten meine Bemühungen in diesen 3 Punkten auch mal einen Erfolg gezeigt, so daß dies nur der Stärkung des Vertrauensverhältnisses zwischen uns dienen kann. Wenn ich hinsichtlich aller Wünsche, die er äußert, stets nur Mißerfolge erziele bzw. sich nur Einschränkungen für ihn danach ergeben, so werden Gespräche seinerseits mit mir für ihn immer sinnloser werden. (..) 4. Zur Kassationsanregung müßte ich mir bis Mai 1979 für ihn einleuchtende Überlegungen machen, die ihn an einer solchen Anregung hindern.

(..) Vor allen Dingen werde ich ihm keine juristischen Argumente liefern können, die ihn überzeugen, wenn ich nicht mit ihm alleine reden kann. Nur dann könnte ich bestimmte zusätzliche Bemerkungen machen, die man sich überlegen müßte, die ihn möglicherweise an einem solchen Schritt hindern.

(..) Eine solche "Rehabilitierungs-Welle" wäre selbstverständlich besser zu vermeiden. Wenn aber die Anregung durch ihn nicht verhindert werden kann, dann sollte vorab schon überlegt werden, ob ich ihn dazu bewegen soll, sie dann lieber durch mich fertigen zu lassen oder ob er sie alleine fertigt oder ob wir sie zusammen fertigen. Außerdem sollte von vornherein klar sein, wie und in welcher Frist darauf Bescheid erfolgt." Am 20. Juli 1979 führte Gregor Gysi erneut ein Gespräch mit Rudolf Bahro in der Haftanstalt Bautzen II, über das ein Wortprotokoll vorliegt (Dok. Nr. 182).

Der wesentliche Gesprächsinhalt wird auch in einem von Major Lohr unterzeichneten "Bericht über ein geführtes Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi" vom 17. September 1979 (Dok. Nr. 126) der "Hauptabteilung XX/OG" festgehalten. Hierin heißt es: "Die erleichterten Haftbedingungen halten Bahro jedoch nicht ab, einen schriftlichen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu stellen. (..) Im Ergebnis der Diskussion konnte Gen. Gysi Bahro von diesem Schritt nicht abhalten, er erreichte lediglich, daß Bahro nur für sich einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellt." In einem Dokument vom 20. September 1979 (Dok.
Nr. 127) mit dem Titel "zu Rudolf Bahro und Robert Havemann", aus dem sich der Verfasser nicht entnehmen läßt, wird u.a. folgendes berichtet: "Streng vertraulich wurde zuverlässig durch GMS "Gregor" bekannt, daß sich Bahro unter den derzeitigen Haftbedingungen sehr wohl fühle. (..) Ihm würde, wie er beim letzten Besuch von "Gregor" zum Ausdruck brachte, lediglich die Zeitung "Unita" vorenthalten, so daß er diesbezüglich über seinen Rechtsanwalt beim zuständigen Staatsanwalt Beschwerde einlegen will." Als Verteiler werden in dieser Reihenfolge "Gen. Generalmajor Mittig", "Gen. Generalmajor Kienbaum", "Leiter HA IX", "Leiter HA XX/5 und "HA XX/OG" angegeben.

Abg. Dr. Gysi erklärt, er habe über die Haftbedingungen Rudolf Bahros nur mit den zuständigen Staatsanwälten Dr. Gläßner oder Dr. Kunze bzw. einem Mitarbeiter der Abteilung Recht und Staat im ZK der SED Gespräche geführt. Dem MfS-Offizier Reuter sei er erst nach der Wende begegnet. Abg. Dr. Gysi trägt vor, Rudolf Bahro habe ihn schon während des Gesprächs am 2. Dezember 1978 gebeten, sich dafür einzusetzen, daß ihm eine Schreibmaschine, ein Plattenspieler, bestimmte Zeitungen und andere Sachen zur Verfügung gestellt werden. Nach Veröffentlichung des zweiten Kassibers Rudolf Bahros im "Spiegel" sei jedoch eine erhebliche Verschlechterung der Haftbedingungen von Rudolf Bahro zu befürchten gewesen. Er habe deshalb im Interesse Bahros Vorschläge unterbreitet, die einerseits dessen Wünschen entgegenkommen und andererseits die Gefahr weiterer Kassiber verringern würden. Hierzu habe er in der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED angeregt, den Wünschen Rudolf Bahros entgegenzukommen, um Rudolf Bahro von der Abfassung weiterer Kassiber abzuhalten. Nach der Veröffentlichung des zweiten Kassibers habe er gute Chancen gesehen, einen Teil der Forderungen Rudolf Bahros durchzusetzen. Um etwas zu erreichen, habe er gleichzeitig auch im Interesse seiner Gesprächspartner argumentieren müssen.

Der Abg. Dr. Gysi bezieht sich in diesem Zusammenhang auf einen MfS-Bericht über einen Beitrag in der Zeitschrift "Stern" zum zweiten aus der Haft geschmuggelten Brief Rudolf Bahros und sieht hierin eine Entlastung (Schreiben vom 17. April 1997, Anlage 31). In dem Bericht heißt es: "Operativ interessant ist an diesem "Artikel", daß darin Fakten verarbeitet werden, die nur einem kleinen Kreis von Personen in der Haftanstalt Bautzen II, .. und dem Rechtsanwalt Dr. Gysi bekannt sind." Abg. Dr. Gysi meint, der in diesem Bericht geäußerte Verdacht gegen ihn spreche gegen eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS.

Nach Auffassung des 1. Ausschusses stimmte Dr. Gysi ausweislich des Berichts der HA XX/OG vom 21. Februar 1979 sein Verhalten für einen bevorstehenden Besuch bei Rudolf Bahro mit der HA XX des MfS ab. Er erkundigte sich, was er Bahro auf dessen Forderungen zu Hafterleichterungen und hinsichtlich einer Veröffentlichung im "Spiegel" mitteilen solle. Ihm wurde dabei empfohlen, Bahro gegenüber diese Veröffentlichung nicht zu bestätigen. Zwar hat sich Gregor Gysi ausweislich der handschriftlichen Notizen (Dok. Nr. 173) eines MfS-Mitarbeiters während des Gesprächs mit Rudolf Bahro am 10. März 1979 offenbar daran nicht gehalten und Rudolf Bahro auf die Veröffentlichung hingewiesen. In diesem Punkt wurde ihm jedoch lediglich "empfohlen", die Spiegelveröffentlichung nicht zu bestätigen. Der insoweit vorhandene Freiraum Dr. Gysis ändert jedoch nichts daran, daß er sein Verhalten hinsichtlich eines bevorstehenden Besuchs bei Rudolf Bahro insgesamt mit der HA XX/OG abgestimmt hat.

Im Nachgang zu diesem Besuch informierte Dr. Gysi am 15. März 1979 ausweislich des Berichts gleichen Datums die HA XX/OG des MfS und sprach den Inhalt des Gesprächs mit Rudolf Bahro im Extrakt auf Tonband. Die dazugehörige Tonbandabschrift gibt als Quelle "IM-Vorl. "Gregor"" an und ist in der "Ich- Form" gehalten. Aufgrund der Verknüpfung mit dem Bericht der HA XX/OG hat der 1. Ausschuß keine vernünftigen Zweifel, daß die Tonbandabschrift von Dr. Gysi stammt und der Deckname "Gregor" für Dr. Gysi verwendet wurde. In der Tonbandabschrift stellte Dr. Gysi unter anderem Überlegungen gegen den "Veröffentlichungstrieb" seines Mandanten Rudolf Bahros an, die nach Auffassung des 1. Ausschusses mittelbar weitere Veröffentlichungen Rudolf Bahros verhindern sollten. Hierbei handelt es sich um Überlegungen Gregor Gysis, sein Vertrauensverhältnis zu Rudolf Bahro zu verbessern und damit Einwirkungsmöglichkeiten auf diesen zu gewinnen.

Dr. Gysi schlug bei seinen Überlegungen zwar keine offenen Repressionen gegen Rudolf Bahro vor, er zeigte dem MfS - etwa durch bestimmte Hafterleichterungen - jedoch Möglichkeiten auf, Rudolf Bahro zu steuern, diesen von weiteren Aktivitäten in der Öffentlichkeit abzuhalten und insgesamt ruhig zu stellen. Insbesondere hieraus wird ersichtlich, daß sowohl die HA XX/OG als auch Dr. Gysi bemüht waren, den Anschein der Legalität bei ihrem Verhalten gegenüber Rudolf Bahro, auch angesichts der zu erwartenden Reaktionen im Westen, aufrechtzuerhalten.

Beispielsweise wurden die Haftbedingungen nach Absprache und Unterrichtung der HA XX/OG durch Dr. Gysi mit der zuständigen Staatsanwaltschaft verhandelt und seitens der HA XX/OG Abstimmungen mit der HA IX als dem offiziellen Untersuchungsorgan des MfS vorgenommen.

Im Zusammenhang mit Hafterleichterungen hat Gregor Gysi der HA XX auch am 17. September 1979 über ein Gespräch mit Rudolf Bahro am 20. Juli 1979 in der Haftanstalt Bautzen II berichtet. Der hierzu vorliegende Bericht der HA XX/OG vom 17. September 1979, den der MfS-Offizier Lohr unterzeichnet hat, dokumentiert, daß Rudolf Bahro trotz erleichterter Haftbedingungen einen Ausreiseantrag stellen wollte und Dr. Gysi ihn hiervon nicht abhalten konnte. Auch das Dokument vom 20. September 1979, dem sich der Verfasser nicht entnehmen läßt, spricht für eine inoffizielle Tätigkeit Dr. Gysis für die HA XX/OG des MfS. Die hierin enthaltenen Informationen sind durch "GMS Gregor" streng vertraulich bekannt geworden.

Nach Auffassung des 1. Ausschusses liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die in diesem Zusammenhang vorliegenden Berichte und Tonbandabschriften der HA XX/OG auf Gesprächen Dr. Gysis mit einem Mitarbeiter der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED beruhen. Der 1. Ausschuß geht zudem ausweislich des Berichts vom 21. Februar 1979 davon aus, daß Dr. Gysi den MfS-Offizier Reuter nicht erst nach der Wende kennen gelernt hat, sondern bereits im Jahre 1979 kannte. Der vom Abg. Dr. Gysi angeführte MfS-Bericht über einen Stern-Artikel entlastet diesen nach Auffassung des 1. Ausschusses nicht, da Dr. Gysi in diesem MfS-Bericht lediglich als zu dem Personenkreis gehörend bezeichnet wird, denen die im Stern-Artikel verarbeiteten Fakten bekannt geworden sind.

Im Ergebnis steht auch hier zur Überzeugung des 1. Ausschusses fest, daß Dr. Gysi im Zusammenhang mit den Haftbedingungen Rudolf Bahros und der Spiegelveröffentlichung inoffiziell Berichte und Angaben über Rudolf Bahro an die HA XX/OG des MfS geliefert hat. Insbesondere mit Bezug auf die Veröffentlichungen Rudolf Bahros hat Dr. Gysi dem MfS auch eigene Überlegungen mitgeteilt, um weitere Veröffentlichungen Rudolf Bahros zu verhindern.

6.1.6 Anruf aus West-Berlin

Im Rahmen einer Amnestie wurde Rudolf Bahro im Jahre 1979 aus der Haft entlassen und siedelte kurz danach in die Bundesrepublik Deutschland über.

Aus dieser Zeit liegt eine Tonbandabschrift der Hauptabteilung XX/OG vom 8. Dezember 1979 (Dok. Nr. 194) vor. Die Tonbandabschrift, die als "Information über ein Telefongespräch mit Rudolf Bahro vom 6.12.1979" bezeichnet wird, gibt als Quelle "GMS Gregor"" an und wurde mit "gez. Gregor"" unterzeichnet. Sie enthält den Vermerk: "entgegengenommen: Major Lohr, 7.12.1979". In der Tonbandabschrift wird unter anderem ausgeführt: "R. Bahro rief mich aus Westberlin an und teilte mir mit, daß gegen ihn im ZDF-Magazin eine Provokation gestartet worden sei, (..)." Weiter wird ausgeführt: "Bahro will mich im Rahmen meiner Sprechstunde am 20.12.1979 wieder anrufen. Entgegen dieser Ankündigung rief Rudolf Bahro erneut am 7.12.1979 aus Westberlin in meinem Büro an. Er fragte, ob ich ihm hinsichtlich der Provokation im ZDF-Magazin behilflich sein wolle. (..) Ich habe Herrn B. daraufhin erklärt, daß ich zwar sein Interesse an der Klärung dieser Fragen verstünde, andererseits überhaupt keine Möglichkeit sehen würde, die Beantwortung dieser Fragen zu ermöglichen (..)." Abg. Dr. Gysi erklärt hierzu, er habe im Auftrag Rudolf Bahros einen Mitarbeiter der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED über den wesentlichen Inhalt des Telefongesprächs informiert. Es sei unter anderem darum gegangen, für Rudolf Bahro Nachweise zu organisieren, daß er - entgegen einem Gerücht im Westen - keine Mitgefangenen denunziert habe. Abg. Dr. Gysi vermutet, daß es über seine Information an den Mitarbeiter der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED wiederum eine Information an das MfS gegeben habe.

Der 1. Ausschuß hat keine Zweifel, daß Dr. Gysi die HA XX/OG des MfS über Telefonanrufe Rudolf Bahros am 6. und 7. Dezember 1979 aus West-Berlin informiert hat. Abg. Dr. Gysi hat in seiner Einlassung eingeräumt, ein Telefongespräch mit Rudolf Bahro geführt zu haben. Entgegen dem Vortrag des Abg. Dr. Gysi sieht der 1. Ausschuß jedoch keine Anhaltspunkte dafür, daß die Tonbandabschrift vom 8. Dezember 1979 auf einer Unterrichtung der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED beruht. Die Tonbandabschrift der HA XX/OG, die in der "Ich-Form" gehalten ist, enthält Einzelheiten des Gesprächs zwischen Rudolf Bahro und Dr. Gysi, die nur von einem Gesprächsteilnehmer so auf ein Tonband gesprochen worden sein konnten. Dagegen spricht auch, daß die Tonbandabschrift offenbar am 7. Dezember 1979 angefertigt (.. ein zweiter, nicht angekündigter Anruf Rudolf Bahros am 7. Dezember 1979 wird noch erwähnt) und am gleichen Tage von Major Lohr entgegengenommen wurde. Der Bericht der HA XX/OG datiert vom 8. Dezember 1979. Dieser enge zeitliche Zusammenhang läßt es nach Ansicht des 1. Ausschusses als nicht plausibel erscheinen, daß die HA XX/OG über den Umweg der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED über das Telefongespräch informiert wurde.

Zur Überzeugung des 1. Ausschusses steht somit fest, daß Gregor Gysi die HA XX/OG im Sinne der Feststellungskriterien des 1. Ausschusses inoffiziell über seine Telefongespräche mit Rudolf Bahro informiert hat.

6.1.7 Zusammenfassung

Zur Überzeugung des 1. Ausschusses steht fest, daß Dr. Gysi zumindest seit September 1978 bis Ende 1979 personenbezogene Informationen über seinen Mandanten Rudolf Bahro an die HA XX/OG des MfS geliefert hat. Mit Bezug auf Gregor Gysi wurde in diesem Zusammenhang der Deckname "Gregor" verwandt. Wesentlicher Ansprechpartner für Dr. Gysi bei der HA XX/OG war nach den vorliegenden Dokumenten der MfS-Offizier Lohr.

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Dieses Dokument wurde zuletzt aktualisiert am 19.06.06
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