Buskeismus

Fall Gysi

 

 

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Der Bundesbeauftragte
Für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
Der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

Ergänzender Bericht

zur "Gutachterlichen Stellungnahme..." ( 26. Mai 1995)

zu der in der Behörde des Bundesbeauftragten neu auifgefundenen

Unterlagen, die mir Dr. Gregor Gysi im Zusammenhang stehen

und Anhang

Im Auftrag des Deutschen Bundestages

Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität

Und Geschäftsordnung vom 14.November 1996

Berlin, den 13. März 1997

_______________________________________

Inhalt

Vorbemerkungen  - 3'

1. Bisherige Recherchen und Mitteilungen - 3

2. Vorgehensweise bei den neuerlichen Recherchen - 5

3. Materiallage und Relevanz - 7

 

Grundaussagen

1. Erfassungsverhältnisse - 8

    1. Zeitraum von 1975 bis zum 28. Oktober 1980 - 8

    2. Zeitraum vom 28. Oktober 1980 bis zum 17. September 1986 - 9

    3. Zeitraum vom 18. September 1986 bis Ende 1989 - 9

    4. Aktive Erfassung - 10

2. Decknamen Dr. Gysi - 12

3. Die Inoffizielle Zusammenarbeit - 14

4. Ausgaben von Operativgeld - 19

5. Abgrenzung zwischen inoffizieller und offizieller Zusammenarbeit mit dem MfS - 23

6. Grenz und Postkontrollen - 25

    6.1. Avisierung Dr. Gysis an Grenzübergangsstellen - 25

    6.2. Postkontrollen - 27

 

Zusammenfassung - 28

Anhang  - 30

_______________________________________________

 

Vorbemerkungen

Mit Schreiben vom 14. November 1996 bat der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß) unter Bezugnahme auf das Schreiben der Präsidentin des Deutschen Bundestages vom 8. März 1995 um weitere Auskünfte betreffend den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi. Der Bundesbeauftragte wurde ersucht, nach weiteren Hinweisen zu recherchieren, und eine Zusammenstellung der bislang vorliegenden Dokumente sowie auch eventuell neuer Funde vorzulegen, die nach Themenbereichen und in chronologischer Reihenfolge angeordnet ist.

Seit der Herausgabe der Gutachterlichen Stellungnahme des BStU vom 26. Mai 1995 sind immer wieder Aktenstücke bekannt geworden, die das Verhältnis zwischen Dr. Gysi und dem MfS betreffen. Die neu aufgefundenen Unterlagen reihen sich in die bisherige Materialsammlung ein und ergänzen sie. Der hiermit vorgelegte ergänzende Bericht dient als Interpretationshilfe, er erläutert die Einordnung der zusätzlich aufgefundenen Unterlagen in die vorgelegte Dokumentensammlung und ihre im Zusammenhang mit dieser.

 

1. Bisherige Recherchen und Mitteilungen

Die erste Mitteilung erfolgte in bezug auf das Auskunftsersuchen der Gruppe der PDS/Linke Liste im Deutschen Bundestag zu Dr. Gysi am 25. November 1991. Sie kam zu dem Ergebnis, dass "Keine Hinweise" auf eine Zusammenarbeit mit dem MfS vorliegen.2 Bei dieser ersten Recherche konnten lediglich die seinerzeit vorhandenen MfS-Karteien verwendet werden. Da die Personenkartei F 16 zu Dr. Gysi fehlt, wurden damals auch keine Unterlagen aufgefunden.

Die zweite Recherche erfolgte im Rahmen der Erledigung des Ersuchens der Präsidentin des Deutschen Bundestages vom 23. Januar 1992, dem eine Bitte des Abgeordneten Dr. Gysi zugrunde lag. Ergebnis dieser Recherche war eine archivierte IM-Vorlaufakte der Hauptabteilung (HA) XX/93. Dem Ausschuß wurde eine vollständige Kopie dieser Akte übersandt.4 Diese Akte enthält Hinweise auf eine vorherige inoffizielle Zusammen-

arbeit Dr. Gysis mit der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A). Mit dem Auffinden dieser seinerzeit ordnungsgemäß registrierten und archivierten Akte stand fest, dass es ursprünglich auch eine entsprechende personenbezogene Karteikarte gegeben hat. In der Folgezeit wurden dem 1. Ausschuß weiter Kopien aus MfS-Unterlagen zu Dritten und aus Sachakten übersandt, die Dr. Gysi betreffen.5

Am 28. Oktober 1994 veranstalteten Bürgerrechtler der ehemaligen DDR eine Pressekonferenz. Dort wurden MfS-Unterlagen, die Opfer der MfS-Verfolgung bei der persönlichen Einsicht in ihre Akten ausgewertet hatten, veröffentlicht. Die Bürgerrechtler zogen aus diesen Unterlagen den Schluß, dass Dr. Gysi inoffizieller Mitarbeiter des MfS gewesen sei. Die von den Bürgerrechtlern veröffentlichten MfS-Unterlagen gingen über das von der Behörde bis dahin zu Dr. Gysi vorgelegte Material Quantitativ und Qualitativ hinaus.6 Die betroffenen Bürgerrechtler konnten aufgrund ihrer Kenntnis der damaligen Lebenssachverhalte bei der Einsicht in die zu ihnen geführten MfS-Akten gezielt Hinweisen auf eine inoffizielle Zusammenarbeit nachgehen. Der Bundesbeauftragte war bei der Recherche zu Dr. Gysi zunächst auf die Auswertung der Findhilfsmittel des MfS beschränkt. Diese Findhilfsmittel enthalten – bezogen auf Akten Dritter – grundsätzlich keine Hinweise auf die inoffizielle Zusammenarbeit einer Person.

Im Zusammenhang mit den Beschluß des 1. Ausschusses zur Überprüfung des Abgeordneten Dr. Gysi vom 9, Februar 1995 beauftragte die Präsidentin des Deutschen Bundestages den Bundesbeauftragten mit der "Ausarbeitung eines Gutachtens".7 Diesem Ersuchen wurde mit der Übergabe der Gutachterlchen Stellungnahme am 26. Mai 1995 entsprochen.8 Zudem wurden vom Bundesbeauftragten Fragen von Mitgliedern des 1. Ausschusses beantwortet, die im Zusammenhang mit den in der Gutachterlchen Stellungnahme behandelten Punkten standen.9 Am 22. Juni 1995 beantwortete der Bundesbeauftragte, der Direktor beim Bundesbeauftragten und der zuständige Referatsleiter in einer Ausschusssitzung Fragen von Mitgliedern des 1. Ausschusses in bezug auf Dr. Gysi.10

Indessen wurden, nachdem die Gutachterliche Stellungnahme erstellt worden war, weitere MfS-Dokumente aufgefunden, die im Sinne des Ersuchens der Präsidentin des Deutschen Bundestages relevant wären. Das Auffinden weitere Dokumente ergab sich durch weitere archivische Erschließung, die Erledigung anderer Anträge und Ersuchen, sowie durch weitere Hinweise des 1. Ausschusses.

Am 1. Februar 1996 erfolgte die Nachlieferung von Dokumenten, die Berichte, Informationen und Belege über Operativgeldausgaben enthielt.11 In einer mündlichen Stellungnahme des Direktors beim Bundesbeauftragten und bei der Beantwortung weiterer Fragen des 1. Ausschusses am 7. November 1996 wurde mitgeteilt, dass erneut Unterlagen aufgefunden worden seien, die mit Dr. Gysi im Zusammenhang stehen.

 

2. Vorgehensweise bei den neuerlichen Recherchen

Bereits zum Zeitpunkt der Erstellung der Gutachterlichen Stellungnahme waren die Art und die vorhandene Menge an MfS-Unterlagen zu Dr. Gysi hinreichend, um grundlegende Aussagen zum Charakter seiner Zusammenarbeit mit dem MfS treffen zu können. Es wurden bei der Gutachterlichen Stellungnahme alle bis dahin Dr. Gysi zuzuordnenden Unterlagen zur Kenntnis genommen. Sie wurden insgesamt in Kopie dem 1. Ausschuß zur Verfügung gestellt, um die in den Akteninhalten und der Aktenführung deutlich werdenden Beziehungen zwischen Dr. Gysi und dem MfS darstellen und verständlich machen zu können. Aus diesem Grunde enthielt der Dokumentenanhang zur Gutachterlichen Stellungnahme auch Kopien von solchen MfS-Unterlagen, die allenfalls mittelbar relevant für die Beurteilung einer Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS waren. Damit wurde den Mitgliedern des 1. Ausschusses die Möglichkeit gegeben, sich ein Bild von der Gesamtaktenlage zu verschaffen, um den Aspekt der Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS in den Gesamtkomplex der damaligen Aktenlage einordnen zu können.

Der Bitte des 1. Ausschusses vom November 1996 sollte in der Weise entsprochen werden, dass mit einem vertretbaren Aufwand möglichst alle Aktenstücke mit Bezug zu Dr. Gysi aufgefunden werden. Daher wurde eine systematische Suche in allen einschlägigen Aktenbeständen ohne Beschränkung auf in Findhilfsmitteln enthaltenen konkreten Hinweisen durchgeführt. Alle Fundstellen mit Bezug zu Dr. Gysi wurden zunächst unterschiedslos aufgegriffen und bei diesen Recherchen berücksichtigt.

Die Recherchen wurden wie folgt angelegt:

Erstens wurden die bereits bekannten MfS-Unterlagen aus Beständen, in denen an anderer Stelle Bezüge zu Dr. Gysi festgestellt worden waren, von Anfang bis Ende nach weiteren Hinweisen durchgesehen. Dieser Teil der Recherche umfaßte Akten zu rund 50 Personen mit etwa 800 Aktenbänden, die mehr als 200.000 Seiten enthalten.

Zweitens wurden sämtliche erst grob erschlossenen Unterlagen der HA XX/Operativgruppe (OG) bzw. XX/9 auf Hinweise zu Dr. Gysi alias "Gregor", "Notar" und "Sputnik" durchgesehen. In diesem Aktenbestand wurde recherchiert, weil Dr. Gysi für diese Diensteinheit von 1980 bis Ende 1989 erfaßt war. Der fast 36 lfm. umfassende Aktenbestand wurde vollständig durchgesehen. Der Aktenbestand umfaßt 1.740 Signaturen mit über 260.000 Seiten.

Drittens war der ebenfalls erst grob erschlossene Aktenbestand der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der HA XX unter Zuhilfenahme von Findhilfsmitteln, die der BStU erstellte, ausgewertet. Diese Diensteinheit hat alle für die gesamte HA XX wichtigen Informationen verarbeitet. Mit Hilfe der Archivkartei des BStU und der Hinweise aus dem Elektronischen Personenregister (EPR) wurden in diesem Bestand etwa 30 relevante Signaturen aufgefunden und ausgewertet.

Viertens wurde in den Beständen der Abteilung 4 der HA XX recherchiert, weil sie für die Bekämpfung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR und damit Erscheinungsformen der sogenannten politischen Untergrundtätigkeit zuständig gewesen ist. In dem Bestand der Abteilung 5 der HA XX wurde recherchiert, weil sich deren Vorgangs- und personenbezogene Arbeit im und nach dem "Operationsgebiet" gegen sogenannte Inspiratoren und Organisatoren der politischen Untergrundtätigkeit unter ehemaligen DDR-Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) sowie unter Anhängern alternativer Gruppierungen und Organisationen gerichtet hat. In diesen Beständen wurde mittels Findhilfsmitteln des BStU recherchiert und 35 relevante Signaturen ausgewertet.

Fünftens wurden in den Beständen der HA XX in deren unter "Allgemein" erschlossenen Unterlagen,12 die sich auf rund 1.700 Signaturen belaufen, entsprechend der Erschließungskartei des BStU personenbezogene Recherchen zu zahlreichen anderen Personen durchgeführt und Finanzunterlagen ausgewertet. Auch in diesem Bestand wurde mit dem Findhilfsmitteln des BStU recherchiert.

Sechstens war in den Unterlagen der HA IX zu recherchieren, weil sie als Ermittlungsorgan nach der Strafgesetzordnung der DDR für die offizielle Zusammenarbeit mit der Justiz zuständig gewesen ist. Hier wurde allen durch andere Recherchen bekannten Personenhinweisen nachgegangen.

Siebtens wurden außerdem in den Beständen der für Postkontrolle zuständigen Abteilung M und der für die Telefonkontrolle zuständigen Abteilung 26 die einschlägigen Signaturen ausgewertet. Da Dr. Gysi zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR und zu Journalisten aus westlichen Ländern Verbindungen unterhalten hat, wurde in den Beständen der zuständigen HA II recherchiert. Dabei wurden 20 einschlägige Signaturen aufgefunden und ebenso viele Bände durchgesehen. Weiter wurde zur Anschrift Frankfurter Allee 84 recherchiert, wo Dr. Gysis Kanzlei ihren Sitz hatte (im Ergebnis kann festgestellt werden, daß außer Dr. Gysi keine der dort tätigen Personen vom MfS als inoffizieller Mitarbeiter oder als IM-Vorlauf erfaßt gewesen sind, ebenfalls hat sich dort keine konspirative Wohnung der HA XX befunden). Schließlich wurden relevante Unterlagen ausgewertet, die aus den vom MfS zur Vernichtung vorgesehenen Beständen bisher rekonstruiert werden konnten.

 

3. Materiallage und Relevanz

Durch die auf Vollständigkeit gerichteten systematischen Recherchen wurde deutlich mehr Aktenmaterial aufgefunden, als zum Zeitpunkt der Gutachterlichen Stellungnahme zur Verfügung gestanden hatte. Alle Unterlagen, die irgendeinen Bezug zu Dr. Gysi aufweisen, fanden Aufnahmen in die Gesamtbetrachtung. Es galt der Grundsatz, keinerlei Vorauswahl bei der Berücksichtigung von Unterlagen zu treffen.

Die von der HVA archivierte Akte und die Akte der Operativen Personenkontrolle (OPK) "Sputnik" zu Dr. Gysi konnten nicht aufgefunden werden.

Nach Abschluß dieser Recherchen liegen insgesamt 1.082 Dokumente mit Bezug zu Dr. Gysi vor. Darin sind die bereits an den 1. Ausschuß übersandten Dokumente (1 - 139) enthalten.

Von den neu aufgefundenen Unterlagen werden 110 in diesem ergänzenden Bericht zitiert oder erwähnt. Diese und auch weitere relevante Dokumente werden chronologisch geordnet im Anhang in Kopie übergeben. Aus dem gesamten Zeitraum der aktiven Erfassung Dr. Gysis durch die HA XX/OG bzw. XX/9 sind darunter Belege wie Treffberichte, Tonbandabschriften, persönliche Aktennotizen des operativ zuständigen Offiziers und ein zusätzlicher Finanzbeleg. Die übrigen Aktenstücke zu Dr. Gysi enthalten keine für das Ersuchen des 1. Ausschusses relevanten Informationen und werden mangels Erforderlichkeit nicht herausgegeben. Diese Aktenstücke betreffen Dr. Gysi als Familienmitglied, Rechtsanwalt, Publizist, öffentlich wirksame Person, Privatmann oder Mitglied des BFC "Dynamo". Diese Dokumente sind möglicherweise von Interesse für die Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit Dr. Gysis, für sein Wirken in der politischen Realität der DDR, für seine Karriere als Jurist und SED-Mitglied und für seine Art und Weise als Rechtsanwalt zu handeln, sie haben jedoch keine Relevanz für das Ersuchen des 1. Ausschusses. Sie werden Dr. Gysi antragsgemäß im Zuge seiner persönlichen Akteneinsicht im Rahmen des Stasi-Unterlagengesetzes zur Verfügung gestellt.

 

Grundaussagen

Die folgenden Aussagen und Bemerkungen, die als Interpretationshilfe zu verstehen sind, basieren wie schon bei der Gutachterlichen Stellungnahme, auf dem Inhalt der aufgefundenen Dokumente einerseits und den innerhalb des MfS gültig gewesenen Richtlinien, Befehlen und Dienstanweisungen andererseits, sowie auf den Erfahrungen und Erkenntnissen des BStU, die in Auswertung dieser und anderer Dokumente über die Arbeitsweise des MfS und insbesondere der HA XX gewonnen wurden. Die aufgefundenen Unterlagen zu Dr. Gysi beziehen sich auf den Zeitraum von 1975 bis 1989.

 

1. Erfassungsverhältnisse

Dr. Gysi stand in diesem Zeitraum in unterschiedlichen Erfassungsverhältnissen, die sich in folgende drei Zeitabschnitte einordnen lassen.

1.1. Zeitraum von 1975 bis zum 28. Oktober 1980

Dr. Gysi arbeitete nach Aktenlage von 1975 bis 1977 inoffiziell mit der HV A zusammen.13 Die entsprechende Akte soll nach einem Sachstandsbericht der HV A im Frühjahr 1978 unter der Nummer A/OPK 2185 archiviert worden sein.14 Sie konnte jedoch nicht aufgefunden werden. Bekanntlich sind die Unterlagen der HV A nahezu vollständig vernichtet worden.

Nach der inoffiziellen Zusammenarbeit mit der HVA schloß sich eine Erfassung in dem Sicherungsvorgang der für das Rechtsanwaltskollegium Berlin "zuständigen" Abteilung

XX/1 der Bezirksverwaltung (BV) Berlin an.15 In diesem Sicherungsvorgang wurden alle Mitglieder des Rechtsanwaltskollegiums Berlin erfaßt, sofern sie nicht in einem anderen Erfassungsverhältnis gestanden haben. Die Erfassung Dr. Gysis in diesem Sicherungsvorgang ist erst am 22. September 1980 zugunsten der HA XX/OG gelöscht worden.16 Gleichzeitig hat die Abteilung XX/1 der BV Berlin nicht näher bestimmbare Dokumente in Form einer Akte an die HA XX/OG übergeben. Diese Dokumente haben mit der Erfassung Dr. Gysis in diesem Sicherungsvorgang im Zusammenhang gestanden. Fünf Wochen später ist Dr. Gysi dann im IM-Vorlauf erfaßt worden.

1.2. Zeitraum vom 28. Oktober 1980 bis zum 17. September 1986

Die Erfassung Dr. Gysis im oben genannten IM-Vorlauf hat den Zeitraum vom 28. Oktober 1980 bis zum 17. September 1986 umfaßt. Der für Dr. Gysi angelegte IM-Vorlauf hat den Decknamen "Gregor" und die Registriernummer XV/5647/80 erhalten. Es war durchaus üblich, daß eine IM-Vorlaufakte und damit zugleich die darin erfaßte Person von der erfassenden Diensteinheit bereits einen Decknamen erhalten haben. Die Akte ist vom MfS sechs Jahre geführt und am 17. September 1986 ordnungsgemäß archiviert worden. Die Akte enthält in dem Zustand, wie sie vom MfS archiviert worden ist, keine Unterlagen, die auf eine inoffizielle Zusammenarbeit mit Dr. Gysi zurückgehen. Tatsächlich sind aus diesem Zeitraum aber zahlreiche Unterlagen aufgefunden worden und in anderen Akten enthalten, welche auf eine inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS hinweisen. (Ergebnisse der inoffiziellen Zusammenarbeit während der Erfassung im IM-Vorlauf konnten, so die Erfahrungen des BStU, separat und formlos in einer Beiakte aufbewahrt werden. Sie mußten nicht notwendigerweise Bestandteil der IM-Vorlaufakte sein.)

1.3. Zeitraum vom 18. September 1986 bis Ende 1989

Ab dem 18. September 1986, also noch am Tag der oben genannten Archivierung, ist Dr. Gysi in einer OPK mit der Registriernummer XV/4628/86 erneut erfaßt worden.17

Die dazu gehörende OPK-Akte wurde bisher nicht aufgefunden, wohl aber Durchschläge oder Zweitschriften von Teilen daraus und eine Reihe von Karteikarten mit Verweisen auf sie. Diese OPK hatte den Decknamen "Sputnik".

Bisher war nur belegbar, daß Dr. Gysi während seiner Erfassung in der OPK "Sputnik" als Quelle "Notar" inoffiziell berichtet hat. Nunmehr wurde mit Datum vom 3. Mai 1988 eine Tonbandabschrift aufgefunden, die den Quellenvermerk IM "Sputnik" enthält.18 Das zeigt, daß bei Dr. Gysi offenbar die Art seines Erfassungsverhältnisses für die inoffizielle Zusammenarbeit nachrangig gewesen ist. Trotz seiner unterschiedlichen Erfassung in einem Sicherungsvorgang. IM-Vorlauf oder in einer OPK ist der Charakter des Verhältnisses Dr. Gysis zum MfS grundsätzlich gleich geblieben. Im konkreten Fall sind diese unterschiedlichen Erfassungen lediglich die Voraussetzung für eine konspirative inoffizielle Zusammenarbeit gewesen.

1.4. Aktive Erfassung

Dr. Gysi ist, wie bereits dargestellt, vom MfS von 1975 bis 1989 aktiv erfaßt gewesen.19 Die aktive Erfassung von Personen erfolgte förmlich in der Abteilung XII des MfS (Auskunft, Archiv, Registriernachweis) im Auftrag der operativ verantwortlichen Diensteinheit, wobei diese unter Verwendung von im MfS üblichen Abkürzungen - wie IM-Vorlauf, IM, OPK oder OV20 – den Grund der Erfassung mit angeben mußte. Deshalb läßt die Art der aktiven Erfassung grundsätzlich auch Rückschlüsse zu, in welchem "operativen Verhältnis" die Person zum MfS standen. Festgelegt ist auch gewesen, daß eine bestimmte Person nicht gleichzeitig in verschiedenen Erfassungsverhältnissen hat aktiv erfaßt sein können.21 Die Erfahrungen bei der Aktenauswertung zeigen, daß in einzelnen Fällen die Erfassungsart allein, wie sie Karteikarten oder andere Dokumente, etwa als IM-Vorlauf, IM, OPK oder OV ausweisen, jedoch nicht immer das wirkliche Verhältnis zwischen der Person und dem MfS widerspiegeln.22 Das tatsächliche Verhältnis ergibt sich aber aus dem Inhalt der den Erfassungen zuzuordnenden Unterlagen.

Wird etwa eine Erfassungsart ausgewiesen, die auf eine "operative Bearbeitung" einer Person hindeutet, belegen die Unterlagen jedoch, daß diese Person über Jahre hinweg mit dem MfS inoffiziell zusammengearbeitet hat, dann muß hier nicht ein Versehen oder ein Versäumnis bei der Festlegung des Erfassungsverhältnisses vorliegen. Eine solche, von dem tatsächlichen Verhältnis zum MfS abweichende Erfassung hat auch der gezielten Verschleierung des wirklichen Verhältnisses dieser Person zum MfS dienen können. Das war eine Methode des MfS, die gelegentlich angewandt wurde, um bei Personenauskünften für andere Diensteinheiten oder auch beim Umgang mit Berichten und Informationen innerhalb des MfS Ansatzpunkte für die Identifizierung dieser Person durch andere Diensteinheiten und Mitarbeiter möglichst auszuschließen. Ein solcher Weg konnte nicht eigenmächtig beschritten werden, sondern war nur möglich nach Absprachen zwischen den Führungsoffizieren und deren Vorgesetzten.23 Er ist Ausdruck der "schöpferischen" Anpassung der Arbeitsmethoden des MfS an konkret gegebene Erfordernisse und hat damit den Forderungen in Richtlinie und Befehlen entsprochen.24

Nach den Prinzipien der Speicherführung des MfS sind Erfassungen von Personen in einer Personenkartei (Karteikarte F 16) und grundsätzlich auch in einer Arbeitskartei (Karteikarte F 22) nachzuweisen gewesen.25 Diese Karteikarten muß es auch für Dr. Gysi sowohl während seiner Erfassung in der OPK "Sputnik", gegeben haben. Aufgefunden wurden aber nur einige Karteikarten, die sich auf seine Erfassung in der OPK "Sputnik" beziehen. Dabei handelt es sich um eine Arbeitskarteikarte F 22 – sie enthält Vorgangsart, Registriernummer und Decknamen, eine davon abgeleitete interne Auskunftskartei F 22a sowie die weitere Karteikarte F 77, die in erster Linie der Erarbeitung MfS interner Statistiken gedient hat.26

Karteikarten sind nicht die einzigen Dokumente, mit denen Erfassungen nachzuweisn sind. Es hat von diesen Karteikarten unabhängig geführte Dokumente gegeben, mit denen die Erfassungen belegt werden können. Es handelt sich um Registrier- und Archivregistrierbücher sowie um Vorgangshefte der Abteilung XII des MfS.

Das Registrierbuch ist in der für die Erfassung, Auskunftserteilung und Archivierung innerhalb des MfS zuständigen Abteilung XII geführt worden. Dieses Nachweisdokument hat Eintragungen nur auf Veranlassung der operativ verantwortlichen Diensteinheiten enthalten, in diesem konkreten Falle durch die HA XX/OG bzw. XX/9. In dem aufgefundenen Registrierbuch ist dokumentiert, daß unter der laufenden Nummer 5647 für Führungsoffizier Lohr am 28. Oktober 1980 ein IM-Vorlauf "Gregor" registriert worden ist.27 Die genannte laufende Nummer hat Vorgänger und Nachfolger. Eingetragen ist auch die OPK "Sputnik" mit der Registriernummer XV/4628/86.28

In Archivregistrierbüchern wurde festgehalten, wann eine Akte archiviert worden ist. Das Archivregistrierbuch aus dem Jahre 1986 weist das Datum 18. September 1986 für die IM-Vorlaufakte aus.29 Für die OPK "Sputnik" gibt es derartige Eintragungen nicht. Diese Akte soll nicht archiviert, sondern – wie der Führungsoffizier Lohr am 6. Februar 1992 in einem öffentlich gewordenen Schreiben erklärte [...] im Herbst 1989 vernichtet worden sein.30

Das Vergangsheft hat der Dokumentierung der persönlichen Verantwortung des operativen Mitarbeiters für seine bei der Abteilung XII registrierten Akten und für die von ihr erhaltenen Dokumente und Materialien zum Führen der Akten gedient. Dafür hat der operative Mitarbeiter mit seiner Unterschrift die persönliche Verantwortung übernehmen müssen. Das Vorgangsheft zum Führungsoffizier Lohr konnte bisher nicht aufgefunden werden.31

2. Decknamen Dr. Gysis

In der Gutachterlichen Stellungnahme wurde bereits dargestellt, daß Dr. Gysi unabhängig davon, ob er als IM-Vorlauf "Gregor" oder als OPK "Sputnik" erfaßt gewesen ist, von den Führungsoffizieren der HA XX/OG bzs. XX/9, Lohr und Reuter, über den gesamten Zeitraum der Erfassung hinweg stets als inoffizieller Mitarbeiter angesehen werden sein muß und auch häufig ausdrücklich so bezeichnet worden ist. Dabei sind zeitlich unterschiedlich die Decknamen "Gregor", "Notar" und "Sputnik" verwendet worden.32

Weiter verdeutlicht der BStU, daß diese Decknamen in der HA XX nur einmal vergeben worden sind und nur für Dr. Gysi Anwendung gefunden haben. Eine Zuordnung dieser Decknamen zu anderen Personen hat es in der HA XX nicht gegeben. Grundlage für diese Feststellung waren die von der HA XX/OG bzw. XX/9 im Zusammenhang mit der IM-Vorlaufakte "Gregor" und der OPK "Sputnik" vorgenommenen Eintragungen in bestätigungspflichtigen Formblättern und die daraufhin in der Abteilung XII des MfS geführten Registriernachweise. Diese sind, wie sich aus den Unterlagen ergibt, in sich stimmig.

In aufgefundenen Informationen, Berichten, Vermerken, Plänen, Operativgeldbelegen und Aufstellungen kommen die Decknamen "Gregor" (23),33 "Notar" (40)34 und "Sputnik" (13)35 vor. Der Deckname "Gregor" findet bis auf eine Ausnahme36 nur bis zur Erfassung Dr. Gysis im gleichnamigen IM-Vorlauf am 28. Oktober 1980 Anwendung. Der Deckname "Notar" ist Dr. Gysi auch dann noch zugeordnet gewesen, als er bereits in der OPK "Sputnik" erfaßt worden war.37 Erstmals wurde ein Dokument aufgefunden, auf welchem der Deckname "Sputnik" als Quellenhinweis erhalten ist. Dieses Dokument ist eine Tonbandabschrift vom 3. Mai 1988, also aus einer Zeit, in der Dr. Gysi in der OPK "Sputnik" erfaßt gewesen ist.38 Die Decknamen sind teilweise mit unterschiedlichen IM-Kategorien wie GMS, IM-Vorlauf, IM oder GMS verknüpft worden, worauf in der Gutachterlichen Stellungnahme bereits näher eingegangen wurde.39

Betrachtet man dagegen die aufgefundenen Finanzbelege über die Anwendung verschiedener Decknamen für Dr. Gysi, dann ergibt sich, daß der Deckname "Sputnik" durchgängig für die gesamte Zeit gebräuchlich gewesen ist, in der die gleichnamige OPK formell auch tatsächlich existiert hat (vgl. Tabelle 2).40

Einige der jetzt aufgefundenen Unterlagen – es handelt sich durchweg um Beobachtungsberichte der HA VIII (Erfassung, Beobachtung, Festnahme) – enthalten in Verbindung mit Dr. Gysi außerdem den Tarnnamen "Drossel". Insgesamt wurden sieben derartige Unterlagen aufgefunden.41 Die Vergabe von Tarnnamen für beobachtete Personen (Beobachtungsobjekte) bzw. von Tarnbezeichnungen war eine interne Angelegenheit der HA VIII. Sie diente lediglich einer exakten Verständigung der Beobachtungskräfte untereinander sowie einer möglichst präzisen Zuordnung von Handlungsabläufen der beobachteten Personen. Die Vergabe von Tarnnamen für zu beobachtende Personen erfolgte völlig unabhängig von bereits bestehenden Erfassungsverhältnissen und hatte auch nur für die Dauer der Beobachtung Bestand. So hat Dr. Gysi in einem Beobachtungsbericht vom 22. April 1982 den Tarnnamen "Drossel" erhalten, obwohl es zu diesem Zeitpunkt in der Abteilung XII als IM-Vorlauf "Gregor" erfaßt gewesen ist.42

3. Die inoffizielle Zusammenarbeit

Nunmehr liegen insgesamt 34 Informationen, Berichte, Tonbandabschriften und Vermerke vor, die im Rahmen der inoffiziellen Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/OG bzw. XX/9 entstanden sind. Sie beziehen sich auf 27 verschiedene Zeitpunkte bzw. Sachverhalte oder Ereignisse und umspannen den Zeitraum vom 28. August 1978 bis zum 8. September 1988 (vgl. Tabelle 1). Bis zum Zeitpunkt der Erfasssung Dr. Gysis als IM-Vorlauf "Gregor", also dem 28. Oktober 1980, haben die MfS-Offiziere Lohr bzw. Reuter über einige der von Dr. Gysi in seinen Informationen geschilderten Sachverhalte bzw. Ereignisse Berichte in zwei Fassungen gefertigt, die als Quellenvermerk sowohl den Klarnamen Dr. Gysi als auch einen der ihm zuzuordnenden Decknamen enthalten. Daraus erklärt sich in erster Linie die Differenz von 34 – 27.

Die zusätzliche Ausfertigung von Informationen mit grundsätzlich den selben Inhalt, die als Quellenhinweise sowohl den Klarnamen Dr. Gysi als auch einen seiner ihm zugeordneten Decknamen enthalten, bringt zum Ausdruck, daß die HA XX/OG offensichtlich vor der Erfassung Dr. Gysis als IM-Vorlauf mit ihm offiziell wie mit einem GMS43 zusammengearbeitet hat. Die Vergabe von Decknamen, wie hier geschehen, ist üblich gewesen. Damit ist der inoffizielle Charakter des Kontaktes zwischen Dr. Gysi und den MfS-Offizieren Lohr und Reuter bereits vor seiner Erfassung als IM-Vorlauf "Gregor" verdeutlicht worden.

Nach Aktenlage hat diese Zusammenarbeit Dr. Gysis vor Anlegen des IM-Vorlaufs etwa zwei Jahre gedauert. In dieser Zeit ist Dr. Gysi noch im Sicherungsvorgang der Abteilung XX/1 der BV Berlin erfaßt gewesen. Da damit die operative Verantwortlichkeit für Dr. Gysi noch in dieser Abteilung gelegen hat, hat die inoffizielle Zusammenarbeit mit der HA XX/OG eine vorherige Abstimmung mit der zuständigen Diensteinheit vorausgesetzt. Ohne eine Billigung der Abteilung XX/1 hat es sonst diese Zusammenarbeit nicht geben können. Nach den Erfahrungen des BStU ist eine solche Abstimmung nicht formgebunden gewesen, sie hat auch mündlich erfolgen können. Entsprechende Hinweise für diese Abstimmung wurden nicht aufgefunden.

Nach Aktenlage hat Dr. Gysi durchweg mündlich berichtet, worüber die MfS-Offiziere Lohr und Reuter schriftliche Berichte angefertigt haben. Das hat, wie die Erfahrungen des BStU zeigen, durchaus der üblichen Praxis des MfS entsprochen. Die im Ergebnis der inoffiziellen Zusammenarbeit mit Dr. Gysi von der HA XX/OG bzw. XX/9 erarbeiteten Dokumente sind als Informationen (8), Berichte (6), Berichtsauszug (1), Vermerk (2) oder als Tonbandabschrift (17) bezeichnet worden.

Nachweislich der Unterlagen hat in 75 Prozent der Fälle Dr. Gysi dem MfS entweder noch am Ereignistag, einen Tag danach oder in einer Spanne von bis zu fünf Tagen über die relevanten Sachverhalte Bericht erstattet. Zwischen ihm und den Führungsoffizieren Lohr und Reuter muß es dauerhafte Verbindungen gegeben haben.44 Die inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS hat von 1978 bis 1989 nur mit den MfS-Offizieren Lohr und Reuter stattgefunden. Nach den MfS-Unterlagen haben sie sich mindestens viermal in der Wohnung Dr. Gysis getroffen.45

Die jetzt aufgefundenen Unterlagen belegen, daß sich Dr. Gysi mit dem MfS-Offizier Lohr am 7. April 1981 in der konspirativen Wohnung "Ellen" getroffen haben muß und Aufträge des MfS entgegen genommen hat.46

Aus den jetzt vorliegenden Dokumenten geht deutlicher als bisher hervor, daß nur Dr. Gysi der Informant für jene Berichte gewesen sein muß, die mit "Gregor", "Notar" oder "Sputnik" als Quellenvermerk versehen worden sind. Das ergibt sich sowohl aus den Quellenhinweisen als auch aus der Textanalyse dieser Berichte. Charakteristisch ist, daß sie Inhalte von Gesprächen wiedergeben, die Dr. Gysi mit seinen Mandanten geführt hat. Die in sich schlüssigen Abfolgen und Inhalte der in den Informationen dokumentierten Gesprächsführung (erkennbare Eröffnung und Beendigung der Gespräche, logisches Anknüpfen an Inhalte vorangegangener Gespräche, eingefügte eigene Wertungen der Quelle zu Aussagen und Verhaltensweisen ihrer Gesprächspartner, das fast völlige Fehlen zeitlicher und örtlicher Brüche in den Informationen) zeigen, daß diese Informationen durch Treffen Dr. Gysis mit den Führungsoffizieren Lohr und Reuter zustandegekommen sein müssen.

Die mit dem Hinweis auf die Quellen "Gregor", "Notar" oder "Sputnik" versehenen inoffiziellen Informationen können nach den Erkenntnissen des BStU nicht aus technischen Quellen stammen und sind auch keine Sammlung von Informationen aus verschiedenen Quellen. Sogenannte inoffizielle Sammelinformationen (zusammengefaßte Informationen sind in der HA XX ebenso wie im gesamten MfS gesondert gekennzeichnet worden, indem alle beteiligten Quellen einzeln aufgeführt worden sind. Das heißt, derartige Informationen haben keinen gesonderten oder für alle anderen Quellen zusammenfassenden Decknamen wie etwa "Notar" erhalten.

Dr. Gysi hat aufgrund seiner besonderen beruflichen Stellung als einer der wenigen Rechtsanwälte in der DDR, die als Verteidiger national und international bekannte Oppositionelle aus der DDR vertreten haben, der HA XX/OG bzw. XX/9 über zehn Jahre hinweg Informationen über seine Mandanten liefern können, die für das MfS wichtig gewesen sind. Sie haben mit einer Grundlage für die operative "Bearbeitung" solcher Mandanten Dr. Gysis wie Rudolf Bahro,47 Annedore und Professor Robert Havemann oder Bärbel Bohley gebildet. Hierbei ist offenbar unbedeutend gewesen, ob die Verwendung von Decknamen für Dr. Gysi formell der gegebenen Erfassungsart entsprochen hat oder in welcher Kategorie – GMS, IM, IMS oder IM-Vorlauf – er eingeordnet worden ist. Die Vergabe von Decknamen ohne schriftliche Verpflichtung – wie bei Dr. Gysi sowie die Einordnung inoffiziell arbeitender Personen in verschiedene IM-Kategorien, wie das bei ihm der Fall gewesen ist, hat im Ermessen der HA XX/OG bzw. XX/9 gelegen. Es handelt sich, wie die MfS-Unterlagen belegen, um ein grundsätzliches Formerfordernis, das den inhaltlichen Verlauf einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS nicht berührt hat, sondern eine Voraussetzung gewesen ist, um eine derartige Zusammenarbeit durchführen zu können.

Diese inhaltliche Verlauf der inoffiziellen Zusammenarbeit ist im Falle Dr. Gysis weiter dadurch gekennzeichnet, daß er im Rahmen seiner zehn Jahre andauernden aktiven Erfassung für die HA XX/OG bzw. XX/9 verfügbar gewesen ist, personenbezogene Aufträge angenommen und Informationen geliefert hat. Er hat sich demnach in Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen des MfS gegenüber seinen eigenen Mandanten einbinden lassen, indem er als Rechtsanwalt dem MfS inoffiziell Informationen über diese Mandanten geliefert und seine Mandanten im Interesse des MfS beeinflußt hat.48

Weiterhin ist die aufgezeichnete inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS von einem festen Zusammenhang zwischen den vom MfS an ihn erteilten Aufträgen und ihrer Erledigung durch Dr. Gysi gekennzeichnet. Damit ist ein weiteres typisches Merkmal einer inoffiziellen Zusammenarbeit gegeben.49

Dr. Gysi ist demnach eine für das MfS aktiv handelnde Person gewesen. Dafür hat er aufgrund seiner beruflichen Stellung als Rechtsanwalt der bedeudendsten oppositionellen Kräfte in der DDR für das MfS günstige Voraussetzungen geboten. Die inoffizielle Zusammenarbeit ist derart ausgestaltet gewesen, daß Dr. Gysi dem MfS auch eigene Vorstellungen und Vorschläge unterbreitet hat, wie sich die Interessen des MfS gegenüber seinen Mandanten optimal durchsetzen ließen.50 Generell haben Personen, die inoffiziell mit dem MfS zusammengearbeitet haben, keinen Einfluß darauf gehabt, wie das MfS mit ihren Informationen bzw. Vorschlägen umgegangen ist. Das dürfte bei Dr. Gysi auch der Fall gewesen sein.

Die inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS war kontinuierlich, was in vielerlei Hinsicht deutlich wird. So sind 17 der 20 aufgefundenen inoffiziellen Berichte, die den Quellenvermerk "Gregor", "Notar" oder "Sputnik" tragen, als Tonbanabschriften deklariert. Diese Form der Berichterstattung Dr. Gysis hat bereits 1978 begonnen und bis 1988 angedauert.

Im Rahmen der operativen "Bearbeitung" solcher Personen wie Rudolf Bahro, Professor Robert Havemann oder Bärbel Bohley hat die HA XX/OG bzw. XX/9 unter aktiver inoffizieller Unterstützung durch Dr. Gysi aus ihrer Sicht eine Reihe von sogenannten sicherheitsrelevanten Schwerpunktaufgaben lösen können, die sowohl für die innenpolitische Lage der DDR als auch für deren Ansehen im Ausland große Bedeutung gehabt haben. Die inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS durfte mit dazu beigetragen haben, daß die HA XX/OG bzw. XX/9 im Rahmen der "Bearbeitung" Oppositioneller aus der DDR hat agieren können.

Tabelle I: Informationen und Berichte, die im Rahmen der inoffiziellen Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS entstanden sind:

 

Nr.

Verfahren

Titel

Quellenhinweis

Dokumenten-Nr.

1

02.10.1978

Information

Dr. Gysi

149

2

07.12.1978

Tonbandabschrift

IM-Vorl[auf] "Gregor"

2, 159, 160

3

07.12.1978

Bericht

Dr. Gysi

1, 158

4

19.[...]1979

Bericht

Dr. Gysi

16, 163, 164

5

[...]1979

Bericht

Dr. Gysi

17, 167, 168

6

14.[...]1979

Tonbandabschrift

IM-Vorlauf "Gregor"

3, 169 – 171

7

15.[...]1979

Bericht

Dr. Gysi

4, 175 – 177

8

28.[...]1979

Berichtsauszug

 

20

9

17.09.1979

Bericht

Dr. Gysi

126

10

20.09.1979

[Information]

GMS "Gregor"

127

11

03.10.1979

[Information]

GMS "Gregor"

128, 184

12

05.12.1979

Information

-

30, 193

13

08.12.1979

Tonbandabschrift

GMS "Gregor"

194

14

12.01.1980

Information

-

202 - 206

15

26.01.1980

Information

 

32, 216, 217

16

23.[...]1980

Tonbandabschrift

"Gregor"

5

17

04.[...]1980

Tonbandabschrift

IM-Vorlauf "Gregor"

6

18

[...]1980

Tonbandabschrift

-

33

19

21.[...]1980

Tonbandabschrift

-

224

20

08.01.1981

Tonbandabschrift

IMS "Notar"

7

21

08.04.1981

Bericht

GMS "Notar"

8

22

11.04.1981

Tonbandabschrift

GMS "Notar"

9

23

07.01.1982

Tonbandabschrift

IM "Notar"

10

24

10.[...]1982

Information

"zuverl. inoffiz. Quelle"

239 – 241

25

22.03.1983

Tonbandabschrift

IMS "Notar"

49, 256

26

15.12.1983

Vermerk

"Notar"

11

27

[04.01.1984]

Vermerk

IM "Notar"

13

28

04.04.1984

Tonbandabschrift

IM "Notar"

12

29

26.04.1984

Tonbandabschrift

IMS "Notar"

14

30

26.03.1985

Tonbandabschrift

IMS "Notar"

264

31

13.03.1986

Tonbandabschrift

IMS "Notar"

129

32

03.03.1988

Tonbandabschrift

IMS "Sputnik"

276

33

08.09.1988

Tonbandabschrift

IM "Notar"

15

34

14.09.1988

Information

-

285, 286

Einige der aufgefundenen Unterlagen zeigen darüber hinaus, daß Dr. Gysi bei bestimmten Schwerpunktaufgaben eine zentrale Rolle gespielt hat.trale Rolle gespielt hat.51 Dr. Gysis inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS ist auch daher gekennzeichnet, daß er für das MfS grundsätzlich nur im Zusammenhang mit seiner anwaltschaftlichen Tätigkeit aktiv geworden ist. Nach Aktenlage hat er keine Informationen allgemeiner Art geliefert, wie allgemeine Stimmungsberichte oder allgemeine Personeneinschätzungen.

In den aufgefundenen Unterlagen gibt es keine Hinweise, daß Dr. Gysi um die Interessen seiner Mandanten zu verfolgen, in einer Weise aktiv geworden ist, die den Interessen des MfS zuwiderlief. Dr. Gysi hat, so zeigen es die Unterlagen, den Interessen seiner Mandanten nur dann entgegenkommen können, wenn die Vorstellungen und Absichten mit denen des MfS konform gelaufen sind.

4. Ausgabe von Operativgeld

Eine ausführliche Analyse der Operativgeldausgaben für Dr. Gysi erfolgte in der Nachreichung zur Gutachterlichen Stellungnahme.52 Seitdem wurde ein Operativgeldbeleg neu aufgefunden. Es handelt sich um eine Eintragung in einem Operativgeldkassenbuch bzw. einem Operativgeldbuch.53

Der Vollständigkeit wegen werden einige Fakten und Zusammenhänge noch einmal kurz dargestellt. Unter Operativgeld hat das MfS finanzielle Mittel verstanden, die im Rahmen der Rekrutierung und des Einsatzes von IM sowie zur Organisation von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen in ihrer ganzen Breite benötigt und eingesetzt worden sind.

Nach einer von Minister Mielke erlassenen Operativgeldordnung war die Ausgabe von Operativgeld exakt nachzuweisen und abzurechnen.54 Der Verwendungszweck von Operativgeld ist von einem fein gegliederten System interner Sachkonten- und Untersachkontennummern bestimmt gewesen, für deren sachlich richtige Benutzung die Leiter der Diensteinheiten verantwortlich waren. Finanztechnisch ist die Verwendung von Operativgeld von Haushaltssachbearbeitern nachgewiesen und kontrolliert worden. Grundsätzlich ist der Nachweis von Operativgeldausgaben unter Angabe der Registriernummer erfolgt. Nur so war eine eindeutige Zuordnung der beanspruchten Konten für eine bestimmte Person möglich.

Bezogen auf "Gregor", "Notar" und "Sputnik" konnten insgesamt 29 Operativgeldbelege aufgefunden werden, davon Auszahlungsanforderungen für Operativgeld (7),55 Operativgeldabrechnungen (8),56 Nachweise in Operativgeldkassenbüchern (6)57 sowie zusammengefaßte Aufstellungen, aus denen hervorgeht, wieviel Operativgeld in diesem Zusammenhang in einem Jahr ausgegeben worden ist.

Unter Abrechnung auf dem Untersachkonto 6000 – Zuwendung für IM und GMS, einschließlich Präsente – ist für "Gregor", "Notar" und "Sputnik" von 1979 bis 1989 alljährlich Operativgeld verauslagt worden. Nach Tabelle 2 ist das in 80 Prozent der Fälle in Form von Präsenten oder Schenkungen erfolgt. Auch die Operativgeldabrechnung vom 17. Januar 1989 enthält den Vermerk "Präsent".58 Die in dieser Tabelle aufgeführten Operativgeldbelege enthalten exakt die dem Erfassungsverhältnis entsprechende Registriernummer, unter denen Dr. Gysi entweder als IM-Vorlauf oder als OPK erfaßt gewesen ist. Das unterstreicht zum einen die Genauigkeit der Abrechnung von Operativgeld durch die HA XX/OG bzw. XX/9 und zum anderen aber auch, daß sich das tatsächliche Verhältnis von Dr. Gysi zum MfS nicht geändert hat. Während der Erfassung in der OPK "Sputnik" hat er wertmäßig mehr Präsente vom MfS erhalten als in der Zeit seiner Erfassung als IM-Vorlauf "Gregor" (578, 20, 465, 80 Mark der DDR). Ein Finanzbeleg vom 18. Dezember 1981 ist in Verbindung mit "Notar" mit der Kontonummer 6021 abgerechnet worden. Hier ist Operativgeld für Nahrungs- und Genußmittel ausgegeben worden, die offensichtlich bei einem Treff mit Dr. Gysi benötigt wurden.59 Dr. Gysi ist seit September 1986 in einer OPK erfaßt gewesen. Nach den Erfahrungen der BStU haben Personen, die im Rahmen einer OPK operativ "bearbeitet" worden sind, vom MfS keine Präsente erhalten. Die Tatsache, daß Dr. Gysi während seiner Erfassung in einer OPK Präsente und Geschenke von der HA XX/9 erhalten hat, zeigt, daß die OPK "Sputnik" nicht das tatsächliche Verhältnis zwischen Dr. Gysi und dem MfS widerspiegelt.

Die in den Tabellen 3 und 4 ausgewiesenen Operativgeldbeträge sind Nachweise, die vom Haushaltssachbearbeiter der HA XX auf der Grundlage von Auszahlungsanordnungen für Operativgeld oder Operativgeldabrechnungen angefertigt worden sind. Das heißt diese Dokumente weisen keine zusätzlichen Ausgaben für Dr. Gysi aus. Die darin enthaltenen Operativgeldbeträge entsprechen den in Tabelle 2 aufgeführten Beträgen.

Die mit * gekennzeichneten Eintragungen stimmen mit den Eintragungen in Tabelle 2 wertmäßig überein. Da keine geschlossenen Reihen von Finanzbelegen der beschriebenen Art vorliegen, kann eine solche Übereinstimmung nur beispielhaft belegt werden.

Tabelle 2: Operativgeldbeträge, die in aufgefundenen Operativgeldanforderungen bzw. –abrechnungen enthalten sind60

Datum

Deckname

Registrier-Nr.

Verwendung

Konto

Betrag

[...]8.12.1979

GMS "Gregor"

XV/5647/80

Präsent, Jahreswechsel

6000

61,00

[...]3.01.1981

IMS "Notar"

dito

Zuwendung

dito

25,60

[...]2.01.1981

IMS "Notar

dito

Präsent anläßl. Geburtstag

dito

55,00

[...]9.04.1981

IMS "Notar"

dito

operative Auslagen

dito

45,00

[...]06.1981

IMS "Notar"

dito

op. Auslagen, Präsent

dito

31,60

18.12.1981

IMS "Notar"

dito

Schenkung, (Getränke)

6021

31,60

15.01.1982

IMS "Notar"

dito

Geschenk auf Geburtstag

6000

64,00

22.01.1983

IMS "Notar"

dito

Präsent

dito

62,00

02.02.1984

IMS "Notar"

dito

Präsent

dito

45,00

27.12.1985

IMS "Notar"

dito

 

dito

45,00

20.01.1987

IMS "Sputnik"

XV/4628/86

Präsent

dito

105,00

22.12.1987

IMS "Sputnik"

dito

Präsent

dito

95,00

28.01.1988

IMS "Sputnik"

dito

-

dito

98,00

21.12.1988

IMS "Sputnik"

dito

-

dito

105,00

17.01.1989

IMS "Sputnik"

dito

Präsent

dito

175,20

Tabelle 3: In Operativgeldkassenbüchern nachgewiesene Operativgeldbeträge61

Jahr

1983

1983

1985

1987

1988

1989

Reg.-Nr.

XV/5647/80

dito

dito

XV/4628/86

dito

dito

Konto

6000

dito

dito

dito

dito

dito

Betrag

38,00

32,00

45,00*

105,00*

105,00*

175,20*

Tabelle 4: Operativgeldausgaben, die in Jahreslisten enthalten sind62

Jahr

1980

1981

1982

1983

1984

1985

1986

1987

Deckname

"Gregor"/"Notar"

"Notar"

"Notar"

"Notar"

"Notar"

"Notar"

"Notar"

"Sputnik"

Betrag

86,60

227,20*

63

76,80

70,00

87,60

90,00*

45,00

200,00*

 

5. Abgrenzung zwischen inoffizieller und offizieller Zusammenarbeit mit dem MfS

Das MfS hat sich strukturell so gegliedert, daß es möglich gewesen ist, flächendeckend alle gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche der DDR zu kontrollieren und zu überwachen. Dazu hat es eine MfS-interne Arbeitsteilung gegeben. Diese legte Verantwortungsbereiche fest. Eine Folge dieser Arbeitsteilung waren voneinander abgegrenzte Arbeitsbereiche, in denen sich die Tätigkeit der einzelnen operativen Diensteinheiten vollzogen hat. Mit diesen Verantwortungsbereichen wurde festgelegt, welche Diensteinheit wofür konkret zuständig gewesen ist.

Im Rahmen ihrer Zuständigkeit haben die operativen Diensteinheiten ihre Aufgaben zur Kontrolle, Überwachung und Einflußnahme in erster Linie durch den Einsatz von IM, aber auch durch Einflußnahme auf offiziellem Wege realisiert. Zwar hat grundsätzlich jede operative Diensteinheit Personen als IM aus Bereichen rekrutieren können, die nicht in ihrem Verantwortungsbereich gewohnt oder gearbeitet haben, um mit diesen inoffizielle Aufgaben im eigenen Verantwortungsbereich lösen zu können, offizielle Kontakte hat es aber immer nur innerhalb des eigenen Verantwortungsbereiches geben dürfen. Wenn das MfS beispielsweise auf offiziellem Wege darauf Einfluß hat nehmen wollen, daß der Direktor eines volkseigenen Betriebes Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsdisziplin oder zum Schutz von Havarien einzuleiten hatte, dann durfte mit dem Direktor dieses Betriebes offiziell nur diejenige Diensteinheit zusammenarbeiten, das heißt, mit ihm sprechen und ihn beauftragen, die für diesen Betrieb eine direkte Zuständigkeit gehabt hat. Anderen Diensteinheiten ist versagt gewesen, mit diesem Direktor offiziell etwas zu klären. Dieses Prinzip der Zuständigkeit für eine offizielle Zusammenarbeit ist nach Erkenntnissen des BStU durchgängig eingehalten worden. Anhand der Akteninhalte läßt sich so die Frage beantworten, ob eine offizielle Zusammenarbeit überhaupt möglich gewesen ist, oder ob es sich von vornherein um eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS gehandelt haben muß.

Dr. Gysi ist Mitglied des Rechtsanwaltskollegiums Berlin und einige Jahre auch dessen Vorsitzender gewesen. Für dieses Kollegium ist allein die Abteilung XX/1 der BV Berlin zuständig gewesen, ohne deren Zustimmung war es nicht möglich, daß die HA XX/OG bzw. XX/9 in irgendeiner Form mit Dr. Gysi offiziell zusammenarbeiten hat können. Hauptabteilungen hatten gegenüber Abteilungen der Bezirksverwaltungen grundsätzlich kein Weisungsrecht, eine operative Zuständigkeit konnte durch die höhere Ebene nicht aufgehoben werden. Die HA XX/OG bzw. XX/9 hat keinerlei Aufgaben bzw. Zuständigkeiten für das Justizwesen der DDR, weder gegenüber dem damaligen Ministerium für Justiz noch gegenüber einem Rechtsanwaltskollegium gehabt. Ihr Verantwortungsbereich lag hauptsächlich darin, federführend im MfS die "Bearbeitung" des "politischen Untergrunds" zu betreiben. Diese Aufgabe hat sich keinesfalls auf bestimmte Situationen und Einrichtungen beschränken lassen.

Das MfS hat an Dr. Gysi ein Interesse wegen seiner Mitgliedschaft und Funktion im Rechtsanwaltskollegium Berlin gehabt, und wegen seiner beruflichen Kontakte zu Personen, die dem "politischen Untergrund" zugeordnet worden sind. Für ersteres ist die Abteilung XX/1 der BV Berlin zuständig gewesen, für letzteres die HA XX/OG bzw. XX/9. [...] erklärt sich, warum sein Name am 22. September 1980 von einem Sicherungsvorgang der Abteilung XX/1 der BV Berlin zugunsten der HA XX/OG gelöscht worden und die Zeit danach von dieser Diensteinheit aktiv in einem IM-Vorlauf erfaßt worden ist. Mit dieser Erfassung hat die Abteilung XX/1 der BV Berlin die operative Zuständigkeit für Dr. Gysi verloren. Für das Rechtsanwaltskollegium Berlin ist sie hingegen weiterhin zuständig gewesen. Mit dem Tag der Erfassung ist die operative Zuständigkeit für die Person Dr. Gysi in die alleinige Verantwortung der HA XX/OG übergegangen. Von diesem Zeitpunkt an haben sich alle anderen operativen Diensteinheiten, die irgendein operatives Interesse an Dr. Gysi gehabt haben, mit der HA XX/OG bzw. XX/9 in Verbindung setzen müssen. Das hat nichts daran geändert, daß die Abteilung XX/1 der BV Berlin weiterhin offiziell an Dr. Gysi in seiner Eigenschaft als Mitglied des Rechtsanwaltskollegium Berlin bzw. als dessen Vorsitzender hat herantreten können, wofür es auch ein Beispiel gibt.64

Eine offizielle Zusammenarbeit des MfS mit Dr. Gysi ist auch seitens des MfS als Untersuchungsorgan gem. § 88 der StPO der DDR (zuständig sind die HA IX bzw. Abteilung IX gewesen) im Rahmen der anwaltschaftlichen Vertretung seiner Mandanten möglich gewesen. Nur das Untersuchungsorgan und nicht etwa die HA XX/OG bzw. XX/9 hat strafprozessuale Maßnahmen einleiten können. Für Dr. Gysi als Rechtsanwalt und Verteidiger in Strafprozessen war deshalb nicht die HA XX/9, sondern die HA IX der offizielle Ansprechpartner. Solche Kontakte waren offizieller Art. Wie aus den Absprachen zwischen Dr. Gysi und einem Mitarbeiter der HA IX im Zusammenhang mit Ereignissen in Güstrow hervorgeht, hat ihm diese Möglichkeit und damit auch der Unterschied zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit der HA XX/9 bekannt sein müssen.65

Dr. Gysi durfte aus seiner langjährigen Tätigkeit im Rechtsanwaltskollegium Berlin bekannt gewesen sein, daß die MfS-Offiziere Reuter und Lohr nicht die offiziellen Vertreter der Untersuchungsabteilung des MfS gewesen und auch niemals bei Ermittlungsverfahren oder Strafprozessen als solche in Erscheinung getreten sind.

6. Grenz- und Postkontrollen

Bei der neuerlichen Recherche wurden erstmals mit Dr. Gysi im Zusammenhang stehende Unterlagen der HA VI (Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs) sowie der Abteilung M (Postkontrolle) aufgefunden. Obwohl sich aus diesen Dokumenten keine unmittelbaren Hinweise auf die inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS ergaben, enthalten sie jedoch Informationen, die für sein tatsächliches Verhältnis zum MfS aufschlußreich sind. Daher werden die Decknamen dem 1. Ausschuß vorgelegt und interpretiert.

6.1. Avisierungen Dr. Gysis an Grenzübergangsstellen

Vom MfS veranlaßte Avisierungen66 drücken immer ein besonderes operatives Interesse bzw. die Einbindung der betreffenden Person in Maßnahmen des MfS aus. Bezogen auf Dr. Gysi konnten vier Avisierungen aufgefunden werden,67 eine davon erfolgte auf Veranlassung des Zentralkomitees der SED68. Die drei anderen Avisierungen hat die HA XX/9 selbst vorgenommen, eine davon in Verbindung mit der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG), die für Ausreise und Übersiedlung zuständig gewesen ist. Diese Avisierungen sind insofern bezeichnend, weil Dr. Gysi praktisch von jeder Kontrolle bei der Grenzpassage befreit gewesen ist, obwohl er in dieser Zeit in der OPK "Sputnik" erfaßt war. Ab März 1989 hat er ohne Einschränkungen jederzeit die DDR über festgelegte Grenzübergangsstellen (GÜSt) verlassen oder wiedereinreisen können.69 Die Avisierung mit der Verwaltungsnummer UOF 3297 zeigt, wie er bei den Maßnahmen der HA XX/9 im Zusammenhang mit der Einreise von Bärbel Bohley eingebunden gewesen ist, und auch Interessen des MfS mit durchzusetzen geholfen hat.70

Im folgenden werden einige kurze Erläuterungen zu den einzelnen aufgefundenen Avisierungen gegeben. Die Avisierung UOF 6297 über die Grenzübergangsstelle Invalidenstraße für den 31. Mai 1988 ist auf Veranlassung von Wolfgang Herger erfolgt, damals Leiter der Abteilung Sicherheit des ZK der SED. Dr. Gysi ist im Rückgewinnungsmaßnahmen gegenüber einer geflohenen Person einbezogen gewesen, die sich in Berlin (West) aufgehalten hat, an deren Rückkehr in die DDR die SED aber ein besonderes Interesse gehabt hat. Dr. Gysi hat in Übereinstimmung mit dem Avisierungstermin diese Person am 31. Mai 1988 aufgesucht.71 Die Zahlen 601 und 701 auf der Avisierung haben "bevorzugte Grenzabfertigung" und "Befreiung von der Zollkontrolle" bedeutet.

Die Avisierung UOF 3297 für die Grenzübergangsstelle Zinnwald am 2. und 3. August 1988 ist durch die HA XX/9 erfolgt und vom Führungsoffizier Lohr im Zusammenhang mit der Wiedereinreise von Bärbel Bohley und Werner Fischer am 3. August 1988 veranlaßt worden. In der Rubrik "durchzuführende Maßnahmen" sind ebenfalls die Zahlen 601 und 760 und außerdem die 60 aufgeführt. Diese zuletzt genannte Schlüsselzahl hat die sofortige Verständigung der die Avisierung beantragten Diensteinheit, wenn die avisierte Person die Grenzübergangsstelle passierte, beinhaltet.72

Die Avisierung UOR 2691 an den Grenzübergangsstellen Flughafen Schönefeld und Invalidenstraße für den Zeitraum vom 31. März 1989 bis zum 31. März 1990 ist wiederum auf Antrag der HA XX/9 durch Führungsoffizier Reuter erfolgt und hat eine Gültigkeit von einem Jahr haben sollen.73 Vorgesehen war auch diesmal eine "Abfertigung ohne Zollkontrolle" sowie die Modalität der Verständigung, wenn Dr. Gysi eine der Grenzübergangsstellen passierte. Diese Daueravisierung ist mittelns FDV-Ausdruck der HA XX/9 am 13. April 1989 von der für die Grenzübergangsstellen zuständigen HA VI bestätigt. Darin heißt es "Ihre Fahndungsmaßnahme ist ordnungsgemäß registriert unter der Verwaltungsnummer UOR 2691". Damit war Dr. Gysi nicht etwa zur Festnahme ausgeschrieben. Mit der Bezeichnung "Fahndungsmaßnahme" ist die Avisierung UOR 2691 als Ganzes gemeint, das heißt, die GÜSt, die Laufzeit der Avisierung und die vorgesehenen Kontrollmaßnahmen während der Grenzpassage. Unabhängig davon, ob die vorgesehenen Maßnahmen wohlwollend gewesen sind – wie in diesem Falle – oder ob sie tatsächliche Kontrollhandlungen der Person oder des benutzten Transportmittels beinhaltet haben, die betreffende Person ist im Rahmen der Grenzpassage im Sprachgebrauch des MfS ein "Fahndungsobjekt" mit einer nur ihr zugeordneten eigenen Verwaltungsnummer, hier UOR 2691, gewesen.74

Die ursprüngliche Avisierung für die GÜSt Flughafen Schönefeld und Invalidenstraße ist mit dem Hinweis "Ergänzung zum Fahndungsobjekt" (Erg. z. F.-Objekt) für den 3. bzw. den 7. Mai 1989 noch auf die GÜSt Hirschberg erweitert worden. Die "Fahndungsmaßnahmen" sind gleich geblieben. Das ist in Abstimmung zwischen der HA XX/9 und der ZKG erfolgt, wobei letztere Wert darauf gelegt hat, daß Dr. Gysi in dem von ihm benutzten PKW zwei Personen mitreisen lassen durfte.75

6.2. Postkontrollen

Im Rahmen dieser neuerlichen Recherche wurden auch zehn Materialstücke der Abteilung M (Postkontrolle) aufgefunden, aus denen erkennbar wird, daß die Korrespondenz an das Anwaltsbüro in Berlin, Frankfurter Allee 84, in dem zur damaligen Zeit mehrere Rechtsanwälte tätig waren, unter Postkontrolle gestanden hat und nicht Dr. Gysi persönlich.76

Je zwei der an Dr. Gysi gerichtete Postsendungen sind aus den Jahren 1980, 1981 und 1985, je eine aus den Jahren 1986, 1987 und 1989. Zu den Absendern haben Rudolf Bahro (1980), Thomas Eckert (1987) und Vera Wollenberger (1989) sowie die Sparkasse Berlin (West)77 gehört. Über die zuletzt genannte Korrespondenz und auch über das Schreiben Vera Wollenbergers hat die Abteilung M die HA XX/9 informiert, womit auch in diesem Zusammenhang deutlich wird, daß die zuletztgenannte Diensteinheit für die Person Dr. Gysi die operative Verantwortung getragen hat. Nach Aktenlage sind diese Postkontrollen ohne besonderen Anlaß erfolgt.

Unter den aufgefundenen Unterlagen der Abteilung M befindet sich auch ein vollständig ausgefüllter und bestätigter Antrag Dr. Gysis auf Ausstellung eines Personalausweises.78 Dieses Schriftstück, es ist eine Kopie, die seitens der Abteilung M von der zuständigen Volkspolizeimeldestelle inoffiziell beschafft worden ist, hat der Abteilung M als Grundlage für einen möglichst datengenauen Umgang mit den Personalien Dr. Gysis gedient. Es hat einer üblichen Praxis im MfS entsprochen, was sich für den BStU aus der Auswertung der Akten anderer Diensteinheiten ergibt und ist auch in anderen Fällen so gehandhabt worden. Es sind keinerlei Unterlagen in der Abteilung M aufgefunden worden, aus denen hervorgeht, daß Dr. Gysi Privatadressen unter Postkontrolle gestanden haben.

 

Zusammenfassung

Die auf bitte der Präsidentin des Deutschen Bundestages bzw. im Auftrag des 1. Ausschusses zur Überprüfung des Abgeordneten Dr. Gysi erarbeiteten Rechercheergebnisse wurden in drei Stellungnahmen interpretiert.

  1. "Gutachterliche Stellungnahme zu in der Behörde des Bundesbeauftragten aufgefundenen Aktenstücken, die mit Dr. Gregor Gysi im Zusammenhang stehen" (26. Mai 1995);

  2. "Neu aufgefundene Unterlagen, die mit Dr. Gregor Gysi im Zusammenhang stehen, sowie erläuternde Bemerkungen dazu" (1. Februar 1996);

  3. "Ergänzender Bericht zur `Gutachterlichen Stellungnahme ...`(26. Mai 1995) zu in der Behörde des Bundesbeauftragten neue aufgefundenen Unterlagen, die mit Dr. Gregor Gysi im Zusammenhang stehen" (13. März 1997).

Die Interpretation in der Gutachterlichen Stellungnahme über Inhalt und Dauer der inoffiziellen Zusammenarbeit Dr. Gysis mit dem MfS wurde durch die neu aufgefundenen Unterlagen bestätigt, ergänzt und konkretisiert. Die Recherchen erfolgten umfassend und erstreckten sich auf alle einschlägigen Unterlagen der HA XX sowie auf Unterlagen der Diensteinheiten, die bezogen auf Dr. Gysi mit der HA XX kooperierten bzw. zusammenarbeiteten.

Diese Unterlagen belegen, daß Dr. Gysi von 1978 bis 1989 inoffiziell mit der HA XX/OG bzw. XX/9 zusammengearbeitet hat. In dieser Zeit lieferte er mandantenbezogene Informationen an das MfS. Er hat sich mit seinen Führungsoffizieren Lohr bzw. Reuter sowohl in seiner Privatwohnung als auch in der konspirativen Wohnung "Ellen" getroffen. Zwischen Dr. Gysi und der HA XX/OG bzw. XX/9 hat ein dauerhaftes Verbindungssystem bestanden. Seine inoffizielle Tätigkeit hat sich nicht in der Informationslieferung erschöpft. Gegenüber seinen Führungsoffizieren entwickelte er selbst Vorschläge hinsichtlich der Einflußnahme des MfS auf seine Mandanten. Dr. Gysi hat in Planungen des MfS als verfügbar und einsetzbar gegolten. Die inoffizielle Tätigkeit Dr. Gysis ist vom MfS ausweislich sogenannter Operativgeldabrechnungen mehrfach durch Präsente und Zuwendungen belohnt worden.

Die in der Gutachterlichen Stellungnahme vom 26. Mai 1995 enthaltenen Interpretationen wurden bestätigt und mußten nicht nachträglich revidiert werden. Die in der Behörde des Bundesbeauftragten im Zusammenhang mit Dr. Gysi gesichteten Archivbestände bestätigen die Verbindlichkeit bei der Durchsetzung von Befehlen und Weisungen zur Organisierung der "politisch-operativen" Arbeit im MfS. Auch die HA XX/OG bzw. XX/9 ist an alle die IM-Arbeit betreffenden Richtlinien, Dienstanweisungen und Befehle gebunden gewesen. Die Erfahrungen zeigen aber, daß Richtlinien und Dienstanweisungen den Mitarbeitern des MfS Spielräume zur Verfügung stellten, um solche Vorgaben unter den konkret gegebenen Bedingungen "schöpferisch" anwenden zu können. Solche Spielräume besaßen alle Linien und Diensteinheiten. Auch die HA XX/OG bzw. XX/9 hat sie im Falle Dr. Gysis genutzt.

________________________________________

Anhang

Verzeichnis der Dokumente*

1. Gesamtverzeichnis

2. Verzeichnis in chronologischer Reihenfolge

3. Verzeichnis nach Personen

4. Verzeichnis der Decknamen

Dokumente (Bd. 1 und 2)

Anonymisierte Dokumente (Bd. 1 und 2)

_________________________________

*     Jedes Dokument trägt die Nummer (1-297)

   2. Die bereits übersandten Dokumente tragen laufende Nummern bis einschlie0lich 139. Davon entsprechend die Nummern:

   1 - 125    dem Dokumentenanhang der Gutachterlichen Stellungnahme vom 26.05.1995

   126 - 132 der Lieferung neu aufgefundener Unterlagen vom o1.02.1996

   133 - 138 der Anklagen 1 und 2 zum Schreiben vom 06.11.1996

   139          Anlage zum Schreiben vom 05.03.1997

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Dieses Dokument wurde zuletzt aktualisiert am 18.07.06
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