Verfassungsbeschwerde Bärbel Bohley ./. Gysi Dr. Uwe Lehmann-Brauns • Dr. Dietrich Mahlo • Notare Michael Braun • Rechtsanwälte 10719 Berlin Charlottenburg • Kurfürstendamm 37 Telefon
030/883 62 24 u..883 90 85 Per Eilboten Berlin, 23. Januar 1996 x/vo Verfassungsbeschwerde der Bürgerrechtlerin Bärbel B o h l e y, Berlin, Beschwerdeführerin, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Uwe Lehmann-Brauns, wegen Verletzung der Artikel 5 und 103 Grundgesetz durch dag Urteil des Landgerichts Hamburg vom 19. Mai 1995 - AZ: 324 0 729/94 - sowie durch das Urteil des Hanseatischen Oberlandesqerichts vom 12. Dezember 1995, zugestellt am 02. Januar 1996 - AZ: 7 U 110/95 -. Namens und in Vollmacht der Beschwerdeführerin legen wir gegen das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 12. Dezember 1995, zugestellt am 02. Januar 1996, AZ: 7 U 110/95, Verfassungsbeschwerde ein, mit dem Antrag, das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 12. Dezember 1995 aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Zivilsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg zurückzuüberweisen. Begründung Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verletzung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung Art. 5 Absatz l GG und des rechtlichen Gehörs Art. 103 GG durch die vorgenannten Entscheidungen zum Nachteil der Beschwerdeführerin. I. Die Beschwerdeführerin wurde 1988 verhaftet und in die Haftanstalt des Staatssicherheitsdienstes in Hohenschönhausen eingeliefert. Unausgesprochener Haftgrund war die Tatsache, daß die Beschwerdeführerin sich bemüht hatte, Menschen, die im Zusammenhang mit einer Rosa-Luxemburg-Demonstration verhaftet worden waren, zu betreuen, ihre Familienangehörigen zu informieren und zu beraten. Die Beschwerdeführerin bat - Anlage 1 - den Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi, von der Haftanstalt aus, um anwaltlichen Beistand. Dr. Gysi war einer der wenigen Anwälte in der DDR, denen es erlaubt war, politische Strafprozesse zu übernehmen. Ein anderer war der Rechtsanwalt Schnur. Gegen ihren ausdrücklichen Willen wurde die Beschwerdeführerin aus der Haft nach England abgeschoben. Sie wurde in einen Zug nach Marienborn gesetzt, den sie in Bielefeld verließ. Während ihres halbjährigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in Großbritannien rief die Beschwerdeführerin Dr. Gysi mehrfach an, damit dieser sich für ihre Rückkehr in die DDR einsetzte. So wie von der Beschwerdeführerin wurde Dr. Gysi u.a. von Prof. Robert und Katja Havemann, Ulrike Poppe, Bettina Wegener und Rudolf Bahro beauftragt, kritischen der Bürgerrechtsbewegung zuzurechnenden DDR-Bürgern. Nach der Wende wurde die Beschwerdeführerin Sprecherin des Neuen Forum, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Interessen der DDR-Bevölkerung auch unter den neuen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu vertreten. Dabei gab es auch Kontakte zwischen der Beschwerdeführerin und Dr. Gysi, auch über die so genannten Runden Tische. Im Januar 1992, nachdem die Beschwerdeführerin ihre "Stasi-Akten" eingesehen hatte, bat sie den Rechtsanwalt Dr. Gysi zu sich in die Wohnung. Hierbei hielt sie ihm unter Zeugen den ihr damals zugänglichen Akteninhalt vor, aus dem sich ergab, daß Dr. Gysi die ihm von der Beschwerdeführerin anvertrauten Mandanteninformationen der Hauptabteilung XX/9 des MfS übermittelt hatte. Dr. Gysi versprach während des Gesprächs, Nachforschungen darüber anzustellen, wie und durch wen die Informationen über die Beschwerdeführerin und andere Bürgerrechtler aus seinem Büro an das MfS gelangt sein könnten. In seinem Anwaltsbüro müsse es "eine undichte Stelle" gegeben haben. Zum Beweis füge ich die Kopie der dem Landgericht Hamburg eingereichten eidesstattlichen Versicherung des Herrn Gerd Poppe, Bürgerrechtler, heute MdB, bei. - Anlage 2 - Bis heute hat sich Dr. Gysi bei der Beschwerdeführerin nicht gemeldet oder den Gerichten Hinweise gegeben, die seine Zuträgerschaft in Frage stellen. Vielmehr liegen inzwischen ganze Aktenberge vor, aus denen sich ergibt, daß Dr. Gysi nicht nur die Beschwerdeführerin, sondern viele andere ehemalige Mandanten an das MfS verraten hat. Dabei wird Dr. Gysi in den Akten teils mit seinem Klarnamen, teils mit dem ihm vom MfS verliehenen Decknamen bezeichnet. II. ".... ja, so hätten wir damals den Prozeß der Genugtuung für die Opfer einleiten müssen. Aber wir wollten ja eine friedliche Revolution und haben uns lieber mit den Stasi-Spitzeln an den Runden Tischen rumgedrückt (Böhme, Schnur, de Maiziere, Gysi und alle, die noch nicht enttarnt sind)..." Beweis: Anlage 3 III. Beweis: in der Anlage 4 beigefügtes Urteil Auf Antrag Dr. Gysis erließ das Landgericht Hamburg im Ordnungsmittelverfahren zwei Beschlüsse, die gegen die Verfügungsklägerin ein Ordnungsgeld von jeweils DM 1.000,00 bzw. DM 3.000,00 festsetzte, ersatzweise für den Fall der Nichtbeitreibung verhängte es eine Ordnungshaft von je einem Tag für DM 250,00 bzw. DM 500,00. Beweis: Anlage 5 und 6 Die Verfügungsklägerin ist in einer öffentlichen Einrichtung halbtags tätig. Sie lebt in bescheidenen materiellen Verhältnissen. IV. Das Oberlandesgericht Hamburg hat die Darlegungs- und Beweislast für die Richtigkeit dieser "Behauptung" bei der Beschwerdeführerin angesiedelt. Eine Beweislastumkehr sei nicht anzunehmen, trotz der veröffentlichen Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 06. Mai 1993 NJW 1993, S. 349 f. In jener Entscheidung sei es um die Veröffentlichung einer Stasi-Akte durch den Betroffenen selbst gegangen. Beweis: Anlage 7 Auch "im übrigen" könne die Beschwerdeführerin sich nicht auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen beziehen. Zwar liege ein erhebliches Informationsinteresse der Öffentlichkeit vor, die Beschwerdeführerin habe jedoch "sorgfältiger recherchieren" müssen, bevor sie Dr. Gysi ohne jede Einschränkung als Spitzel bezeichnen könne. Die Beschwerdeführerin könne nicht darlegen, Dr. Gysi "überführt" zu haben, was auch der Senat im Eilverfahren ausgesprochen habe. Der Senat führt dann anhand einzelner von der Beschwerdeführerin eingereichter Unterlagen aus, weshalb diese im Einzelfall nicht ausreichen, um Dr. Gysi zu "überführen". Auch das von der Gauck-Behörde vorgelegte, im Juni 1995 veröffentlichte, im Auftrag des Deutschen Bundestages erstellte Gutachten, das Dr. Gysi als IM-"Notar" und IM-"Gregor" unter Ausschluß der Möglichkeiten anderer Identität bezeichnet, gebe zu keiner anderen Beurteilung Anlaß. Eine Auskunft der Gauck-Behörde sei im Rechtsstreit nicht einzuholen. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, das MfS sei Adressat und Auftraggeber von Dr. Gysi gewesen, sei nicht substantiiert. V. Das Hanseatische Oberlandesgericht erwähnt mit keinem Wort das Verfassungsrecht der Meinungsäußerungsfreiheit. Deshalb nimmt es auch keine Abwägung zwischen Art. 5 Abs. IS. l GG und dem Persönlichkeitsrecht auf Ehrenschutz vor. Die Beschwerdeführerin hatte in jenem Rechtsstreit auf die Rechtssprechung des BVerfG mehrfach Schriftsätzlich und in der mündlichen Verhandlung aufmerksam gemacht, einer Rechtssprechung, der sich ersichtlich die deutschen Obergerichte angeschlossen haben - z. B. in der kleinen Zeitungsausschnittauswahl - Anlage 8 - Im Einzelnen wird dazu wie folgt vorgetragen : 1. a) b) Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dem Beschluß vom 09. Oktober 1991, abgedruckt in NJW 92, Seite 1439 ff. - 1440, zwar nicht mit dem Substantiv "Stasi-Spitzel", wohl aber mit dem Verb "bespitzeln" auseinandergesetzt. Folgt man den Erwägungen des Gerichts, dann dürfte es nicht darauf ankommen, ob Verb oder Substantiv. Das Bundesverfassungsgericht führt (Seite 1441) aus, daß zwar in dem Begriff "bespitzeln" auch die Tatsachenbehauptung läge, daß Beobachtungen stattgefunden haben. Es hält in jenem Fall den dortigen Gerichten vor, was auch gegenüber dem Oberlandesgericht Hamburg einzuwenden ist: Daß sie nicht berücksichtigt haben, daß die verwendete Formulierung als Stellungnahme und Bewertung abgegeben wurde. Der Sinn der Erklärung der Beschwerdeführerin in der "Berliner Zeitung" ist eine politische Distanzierung von dem von ihr und anderen Bürgerrechtlern gewählten Weg nach der Wende, sich mit den Systemträgern und/oder Spitzeln an den Runden Tisch zu setzen. Die Beschwerdeführerin begründet dies damit, daß der Runde Tisch von Personen mitgestaltet wurde, die sich der DDR als Zuträger zur Verfügung gestellt hatten. Die von der Beschwerdeführerin angeführten Schnur, Böhme, de Maiziere, etc. unterscheiden sich von Gysi nur dadurch, daß sie den Inhalt der sie betreffenden MfS-Akten nicht bestritten haben, obwohl oder weil ihre politische Bedeutung geringer war, als die des Dr. Gysi (Vorsitzender des DDR-Anwaltskollegiums und späterer Parteivorsitzender der SED). Bei unbefangener Betrachtung enthält die Äußerung der Beschwerdeführerin hauptsächlich eine selbstkritische Wertung der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nach dem Fall der Mauer durch sie und ihresgleichen. Sie bringt eine Mißbilligung dieser Methode zum Ausdruck. Gysi u. a. werden nur nebenhin zur Konkretisierung und auch nur in der Klammer namentlich erwähnt. Das Bundesverfassungsgericht zitiert das Grimmsche Wörterbuch, in dem der Begriff "Spitzel" als "Schmähwort" "verächtlich" definiert ist. Der Begriff brächte, entgegen dem Oberlandesgericht Hamburg "vor allem ein Unwerturteil über die Art und Weise der Beobachtung zum Ausdruck". Nach der Entscheidung des BVerfG vom 10. Oktober 1995, abgedruckt in NJW 1995, S. 3303 ff. <S. 3305>, verstoßen Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar verfehlen, gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Dies ist hier schon deshalb anzunehmen, weil das Oberlandesgericht Hamburg weder eine Sinnermittlung noch eine Abwägung vorgenommen hat. c) - Anlage 9 A -. d) "Gerade solche Äußerungen, in denen das Tatsachensubstrat... für den Leser nicht hinreichend kenntlich wird, weisen sich für ihn, weil er ihnen eine Mitteilung über den Beweis zugänglicher Vorgänge nicht entnehmen kann, als bloße subjektive Meinungen und nicht als Tatsachenbehauptungen aus." Ist mithin davon auszugehen, daß bei dem Begriff "Stasi-Spitzel" das wertende Element überwiegt, dann durfte weder das Landgericht Hamburg noch das Hanseatische Oberlandesgericht die durch Art. 5 Abs. IS. l GG geschützte Meinungsäußerung verbieten und die Beschwerdeführerin zur Unterlassung verurteilen. Denn eine Schmähkritik liegt angesichts des umfangreichen gegen die Person des Dr. Gysi sprechenden Aktenmaterials eindeutig nicht vor. Wie sich aus der Broschüre - Anlage 10 - eine kleine Zusammenstellung authentischer Dokumente ergibt, wird Dr. Gysi darin als Informant, Berater und Medium des MfS mehrfach mit seinem "Klarnamen" genannt. Sofern Gysi mit den Decknamen als "IM-Notar" oder "Gregor" oder "Sputnik" erwähnt wird, hat die spezielle Fachbehörde der Bundesrepublik Deutschland, die Gauck-Behörde in ihrem Gutachten von 1995 eindeutig ausgeführt, daß sich hinter dem Decknamen IM-Notar und IM-Gregor niemand anders als Dr. Gysi verberge. Daraus folgt zumindest, daß in der Äußerung der Beschwerdeführerin keine "Schmähkritik" zu sehen ist, ein Begriff, der eng zu definieren ist (vgl. BVerfG HJW 95, S. 3304) . 3. Was die Wahrnehmung berechtigter Interessen auf Seiten der Beschwerdeführerin im Übrigen angeht, dürfte deren Spielraum im Lichte des Art. 5 Abs. l S. l betrachtet, besonders weit sein. Ursache und Rahmen ihrer Äußerung zu der Person des Dr. Gysi ist eine politische Auseinandersetzung, die vor allem in Berlin mit aller Schärfe geführt wird. Im vorliegenden Fall vor der Wohnung Wolf Biermanns, die bis 1989 dem MfS zur Beobachtung der Ständigen Vertretung der "BRD" diente und jetzt von dem Pressesprecher der PDS, vermutlich ebenfalls einem ehemaligen MfS-Informanten, okkupiert ist. Als Opfer, Bürgerrechtlerin, Repräsentantin des Neuen Forums und eine Meinungsführerin in dem politischen Streit mit den nach wie vor aktiven Repräsentanten der DDR muß ihr berechtigtes Interesse an einer Wertung anerkannt werden, die durch die Aktenlage und die Gauck-Behörde bestätigt ist. Daß es gerade einen Vertreter jenes Regimes mit Hilfe der Justiz möglich bleiben sollte, der Beschwerdeführerin "den Mund zu verbieten", würde dem verfassungsrechtlich gesicherten rechtstaatlich-demokratischen Umgang mit dem politischen Meinungskampf widersprechen. 4. a) 5. Um keine Stoffmaximierung zu betreiben, fügt die Beschwerdeführerin lediglich das Gutachen der Gauck-Behörde vom 26. Mai 1995 bei sowie die Entschlüsselung des Decknamen der Person des Dr. Gysi durch dieselbe Behörde vom 06. Juni 1995 - Anlage 11 und 12 -. Das Gutachten enthält einen großen Teil der Unterlagen, den die Beschwerdeführerin ihrerseits in dem Hamburger Verfahren überreicht hat. Die Gauck-Behörde kommt zu der Auffassung, daß Dr. Gysi identisch ist mit der Person, die vom MfS mit dem Decknamen "Notar", "Gregor" oder "Sputnik" benannt wird. Die Beschwerdeführerin überreicht weiter die Broschüre im Fall Bahro u. a., - anläge 10 - indem Gysi mehrfach mit seinem Klarnamen als Informant und Ratgeber der Stasi benannt ist. Die Rechtssprechung des Oberlandesgerichts Hamburg läuft darauf hinaus, daß sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung nur berufen könne, wer den Adressaten durch dessen Geständnis überführt. Daß Gysi, anders als Stolpe, Schnur, Böhme und de Maiziere als einziger den gegen ihn sprechenden Akteninhalt für unrichtig erklärt, unterscheidet seine Bewertung als Spitzel nicht von derjenigen der übrigen durch andere Akten Belasteten. 6. 7. 8. Vollmacht der Beschwerdeführerin anbei. Beglaubigte und einfache Abschrift anbei gez. Dr. Lehmann-Brauns
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Rolf Schälike |