Buskeismus


Fall Gysi

Verfassungsbeschwerde Bärbel Bohley ./. Gysi

Dr. Uwe Lehmann-Brauns • Dr. Dietrich Mahlo • Notare Michael Braun • Rechtsanwälte

10719 Berlin Charlottenburg • Kurfürstendamm 37 Telefon 030/883 62 24 u..883 90 85
Telefax O3O / 883 65
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Per Eilboten
Bundesverfassungsgericht
Schlossbezirk 3

76131 Karlsruhe

Berlin, 23. Januar 1996 x/vo

Verfassungsbeschwerde

der Bürgerrechtlerin Bärbel B o h l e y,  Berlin,

Beschwerdeführerin,

Prozessbevollmächtigte:

Rechtsanwälte Dr. Uwe Lehmann-Brauns,
Dr. Dietrich Mahlo und Michael Braun,
Kurfürstendamm 37, 10719 Berlin,

wegen Verletzung der Artikel 5 und 103 Grundgesetz durch dag Urteil des Landgerichts Hamburg vom 19. Mai 1995 - AZ: 324 0 729/94 - sowie durch das Urteil des Hanseatischen Oberlandesqerichts vom 12. Dezember 1995, zugestellt am 02. Januar 1996 - AZ: 7 U 110/95 -.

Namens und in Vollmacht der Beschwerdeführerin legen wir gegen das Urteil des Hanseatischen Oberlandes­gerichts vom 12. Dezember 1995, zugestellt am 02. Januar 1996, AZ: 7 U 110/95,

Verfassungsbeschwerde

ein, mit dem Antrag,

das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 12. Dezember 1995 aufzuheben und die Sache zur erneuten Ent­scheidung an einen anderen Zivilsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg zurückzuüberweisen.

Begründung

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verletzung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung Art. 5 Absatz l GG und des rechtlichen Gehörs Art. 103 GG durch die vorgenannten Entscheidungen zum Nachteil der Beschwerdeführerin.

I.
Die Beschwerdeführerin ist von Beruf Malerin. Sie gehörte zu der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die gegen die dortigen polizeistaatlichen Verhältnisse ankämpfte.

Die Beschwerdeführerin wurde 1988 verhaftet und in die Haft­anstalt des Staatssicherheitsdienstes in Hohenschönhausen eingeliefert. Unausgesprochener Haftgrund war die Tatsache, daß die Beschwerdeführerin sich bemüht hatte, Menschen, die im Zusammenhang mit einer Rosa-Luxemburg-Demonstration verhaftet worden waren, zu betreuen, ihre Familienangehörigen zu informieren und zu beraten. Die Beschwerdeführerin bat - Anlage 1 - den Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi, von der Haftanstalt aus, um anwaltlichen Beistand. Dr. Gysi war einer der wenigen Anwälte in der DDR, denen es erlaubt war, politische Strafprozesse zu übernehmen. Ein anderer war der Rechtsanwalt Schnur.

Gegen ihren ausdrücklichen Willen wurde die Beschwerdefüh­rerin aus der Haft nach England abgeschoben. Sie wurde in einen Zug nach Marienborn gesetzt, den sie in Bielefeld verließ. Während ihres halbjährigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in Großbritannien rief die Beschwerdeführerin Dr. Gysi mehrfach an, damit dieser sich für ihre Rückkehr in die DDR einsetzte. So wie von der Beschwerdefüh­rerin wurde Dr. Gysi u.a. von Prof. Robert und Katja Havemann, Ulrike Poppe, Bettina Wegener und Rudolf Bahro beauf­tragt, kritischen der Bürgerrechtsbewegung zuzurechnenden DDR-Bürgern. Nach der Wende wurde die Beschwerdeführerin Sprecherin des Neuen Forum, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Interessen der DDR-Bevölkerung auch unter den neuen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu vertreten. Dabei gab es auch Kontakte zwischen der Beschwerdeführerin und Dr. Gysi, auch über die so genannten Runden Tische. Im Januar 1992, nachdem die Beschwerdeführerin ihre "Stasi-Akten" eingesehen hatte, bat sie den Rechtsanwalt Dr. Gysi zu sich in die Wohnung. Hierbei hielt sie ihm unter Zeugen den ihr damals zugänglichen Akteninhalt vor, aus dem sich ergab, daß Dr. Gysi die ihm von der Beschwerdeführerin anvertrauten Mandanteninformationen der Hauptabteilung XX/9 des MfS über­mittelt hatte. Dr. Gysi versprach während des Gesprächs, Nachforschungen darüber anzustellen, wie und durch wen die Informationen über die Beschwerdeführerin und andere Bürger­rechtler aus seinem Büro an das MfS gelangt sein könnten. In seinem Anwaltsbüro müsse es "eine undichte Stelle" gegeben haben. Zum Beweis füge ich die Kopie der dem Landgericht Hamburg eingereichten eidesstattlichen Versicherung des Herrn Gerd Poppe, Bürgerrechtler, heute MdB, bei.

- Anlage 2 -

Bis heute hat sich Dr. Gysi bei der Beschwerdeführerin nicht gemeldet oder den Gerichten Hinweise gegeben, die seine Zu­trägerschaft in Frage stellen. Vielmehr liegen inzwischen ganze Aktenberge vor, aus denen sich ergibt, daß Dr. Gysi nicht nur die Beschwerdeführerin, sondern viele andere ehe­malige Mandanten an das MfS verraten hat. Dabei wird Dr. Gysi in den Akten teils mit seinem Klarnamen, teils mit dem ihm vom MfS verliehenen Decknamen bezeichnet.

II.
Mitte November 1993 fand vor der Wohnung Wolf Biermanns in der Chausseestraße 131 in Berlin-Mitte eine Demonstration statt, zu der das Neue Forum aufgerufen hatte. Biermanns Wohnung wird, obwohl er im Besitz seines gültigen Mietver­trages ist und die Wohnung durch seine Exmittierung aus der DDR unfreiwillig verlor, von dem Pressesprecher der PDS, Har­nisch, bewohnt. Der Beschwerdeführerin, die zu diesem Zeit­punkt im Krankenhaus in Halle lag, wurde von der "Berliner Zeitung" vorgehalten, daß sie sich scheue, zu der Besetzung der Wohnung Biermanns Stellung zu nehmen. Daraufhin schrieb die Beschwerdeführerin der "Berliner Zeitung" einen Leser­brief. Die "Berliner Zeitung", in ihrer Ausgabe vom 18. No­vember 1993, berichtete über jene Demonstration. Sie zitierte die Beschwerdeführerin aus deren Leserbrief zutreffend wie folgt:

".... ja, so hätten wir damals den Prozeß der Genugtuung für die Opfer einleiten müssen. Aber wir wollten ja eine friedliche Revolution und haben uns lieber mit den Stasi-Spitzeln an den Runden Tischen rumgedrückt (Böhme, Schnur, de Maiziere, Gysi und alle, die noch nicht ent­tarnt sind)..."

Beweis: Anlage 3

III.
Dr. Gysi erwirkte gegen die Beschwerdeführerin am 24. Novem­ber 1993 eine Einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg - AZ: 324 0. 768/93 - in der es der Beschwerdeführerin ver­boten wurde zu behaupten, zu verbreiten oder behaupten oder verbreiten zu lassen, er sei ein Stasi-Spitzel gewesen. Diese Einstweilige Verfügung bestätigte das Landgericht Hamburg durch Urteil vom 25. Januar 1994. Die gegen dieses Urteil einlegte Berufung wies das Hanseatische Oberlandesgericht mit Urteil vom 13. Oktober 1994 - AZ: 3 U 61/94 - zurück. Die Beschwerdeführerin forderte Dr. Gysi auf, das Hauptsacheverfahren einzuleiten. Durch Urteil der selben Kammer des Landge­richts Hamburg wurde die Beschwerdeführerin am 19. Mai 1995 zur Unterlassung der streitbefangenen Äußerung verurteilt. Die hiergegen eingelegte Berufung wies das Hanseatische Ober­landesgericht durch Urteil vom 12. Dezember 1995, zugestellt am 02. Januar 1996 zurück.

Beweis: in der Anlage 4 beigefügtes Urteil

Auf Antrag Dr. Gysis erließ das Landgericht Hamburg im Ord­nungsmittelverfahren zwei Beschlüsse, die gegen die Verfü­gungsklägerin ein Ordnungsgeld von jeweils DM 1.000,00 bzw. DM 3.000,00 festsetzte, ersatzweise für den Fall der Nicht­beitreibung verhängte es eine Ordnungshaft von je einem Tag für DM 250,00 bzw. DM 500,00.

Beweis: Anlage 5 und 6

Die Verfügungsklägerin ist in einer öffentlichen Einrichtung halbtags tätig. Sie lebt in bescheidenen materiellen Verhältnissen.

IV.
Landgericht und Oberlandesgericht haben ihre Entscheidungen darauf gestützt, die Bezeichnung Dr. Gysis als "Stasi-Spitzel" sei eine Tatsachenbehauptung, die die Beschwerdeführerin nicht bewiesen habe. Zwar habe das Kammergericht in einem ähnlichen Fall ausgesprochen, der Begriff "Stasi-Spitzel" sei eine Wertung und keine Tatsachenbehauptung, im Fall der Beschwerdeführerin stehe jedoch das tatsächliche Moment im Vordergrund. Die Beschwerdeführerin habe, für den Durchschnittsleser erkennbar, nicht zum Ausdruck gebracht, daß sie die Äußerung "Stasi-Spitzel" als Meinungsäußerung im Sinne eines Unwerturteils verstanden wissen wolle.

Das Oberlandesgericht Hamburg hat die Darlegungs- und Beweislast für die Richtigkeit dieser "Behauptung" bei der Beschwerdeführerin angesiedelt. Eine Beweislastumkehr sei nicht anzunehmen, trotz der veröffentlichen Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 06. Mai 1993 NJW 1993, S. 349 f. In jener Entscheidung sei es um die Veröffentlichung einer Stasi-Akte durch den Betroffenen selbst gegangen.

Beweis: Anlage 7

Auch "im übrigen" könne die Beschwerdeführerin sich nicht auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen beziehen. Zwar liege ein erhebliches Informationsinteresse der Öffentlichkeit vor, die Beschwerdeführerin habe jedoch "sorgfältiger recherchie­ren" müssen, bevor sie Dr. Gysi ohne jede Einschränkung als Spitzel bezeichnen könne. Die Beschwerdeführerin könne nicht darlegen, Dr. Gysi "überführt" zu haben, was auch der Senat im Eilverfahren ausgesprochen habe. Der Senat führt dann anhand einzelner von der Beschwerdeführerin eingereichter Unterlagen aus, weshalb diese im Einzelfall nicht ausreichen, um Dr. Gysi zu "überführen".

Auch das von der Gauck-Behörde vorgelegte, im Juni 1995 ver­öffentlichte, im Auftrag des Deutschen Bundestages erstellte Gutachten, das Dr. Gysi als IM-"Notar" und IM-"Gregor" unter Ausschluß der Möglichkeiten anderer Identität bezeichnet, gebe zu keiner anderen Beurteilung Anlaß. Eine Auskunft der Gauck-Behörde sei im Rechtsstreit nicht einzuholen. Die Be­hauptung der Beschwerdeführerin, das MfS sei Adressat und Auftraggeber von Dr. Gysi gewesen, sei nicht substantiiert.

V.
Diese Rechtssprechung verletzt die Beschwerdeführerin mehrfach in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung und recht­liches Gehör.

Das Hanseatische Oberlandesgericht erwähnt mit keinem Wort das Verfassungsrecht der Meinungsäußerungsfreiheit. Deshalb nimmt es auch keine Abwägung zwischen Art. 5 Abs. IS. l GG und dem Persönlichkeitsrecht auf Ehrenschutz vor. Die Be­schwerdeführerin hatte in jenem Rechtsstreit auf die Rechtssprechung des BVerfG mehrfach Schriftsätzlich und in der mündlichen Verhandlung aufmerksam gemacht, einer Rechtssprechung, der sich ersichtlich die deutschen Obergerichte ange­schlossen haben - z. B. in der kleinen Zeitungsausschnittauswahl

- Anlage 8 -

Im Einzelnen wird dazu wie folgt vorge­tragen :

1.
Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Entscheidung vom 05. März 1992 - abgedruckt in HJW 1992, S. 2815 ff. (2816) ausgesprochen, daß es auch festzustellen habe, ob die ange­griffene Entscheidung bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfrei­heit verletzt habe.

a)
Der Verletzungstatbestand wird im vorliegenden Fall zunächst darin gesehen, daß es das Oberlandesgericht gänzlich unter­lassen hat, bei der Auslegung der Äußerung der Beschwerdeführerin und bei der Anwendung der Normen des Ehrenschutzes die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfreiheit in dem Prüfungszusammenhang zu stellen.

b)
Konkret hat das Oberlandesgericht Hamburg Bedeutung und Trag­weite der Meinungsäußerungsfreiheit zunächst dadurch ver­kannt, daß es die Äußerung, Dr. Gysi sei ein "Stasi-Spitzel" unzutreffend als Tatsachenbehauptung bewertet hat mit der Folge, daß sie dann nicht im selben Maße am Schutz des Grund­rechts teilnimmt wie Meinungsäußerungen.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dem Beschluß vom 09. Oktober 1991, abgedruckt in NJW 92, Seite 1439 ff. - 1440, zwar nicht mit dem Substantiv "Stasi-Spitzel", wohl aber mit dem Verb "bespitzeln" auseinandergesetzt. Folgt man den Er­wägungen des Gerichts, dann dürfte es nicht darauf ankommen, ob Verb oder Substantiv. Das Bundesverfassungsgericht führt (Seite 1441) aus, daß zwar in dem Begriff "bespitzeln" auch die Tatsachenbehauptung läge, daß Beobachtungen stattgefunden haben. Es hält in jenem Fall den dortigen Gerichten vor, was auch gegenüber dem Oberlandesgericht Hamburg einzuwenden ist: Daß sie nicht berücksichtigt haben, daß die verwendete For­mulierung als Stellungnahme und Bewertung abgegeben wurde.

Der Sinn der Erklärung der Beschwerdeführerin in der "Ber­liner Zeitung" ist eine politische Distanzierung von dem von ihr und anderen Bürgerrechtlern gewählten Weg nach der Wende, sich mit den Systemträgern und/oder Spitzeln an den Runden Tisch zu setzen. Die Beschwerdeführerin begründet dies damit, daß der Runde Tisch von Personen mitgestaltet wurde, die sich der DDR als Zuträger zur Verfügung gestellt hatten. Die von der Beschwerdeführerin angeführten Schnur, Böhme, de Maiziere, etc. unterscheiden sich von Gysi nur dadurch, daß sie den Inhalt der sie betreffenden MfS-Akten nicht bestrit­ten haben, obwohl oder weil ihre politische Bedeutung ge­ringer war, als die des Dr. Gysi (Vorsitzender des DDR-Anwaltskollegiums und späterer Parteivorsitzender der SED). Bei unbefangener Betrachtung enthält die Äußerung der Beschwer­deführerin hauptsächlich eine selbstkritische Wertung der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nach dem Fall der Mauer durch sie und ihresgleichen. Sie bringt eine Mißbilligung dieser Methode zum Ausdruck. Gysi u. a. werden nur nebenhin zur Konkretisierung und auch nur in der Klammer namentlich erwähnt. Das Bundesverfassungsgericht zitiert das Grimmsche Wörterbuch, in dem der Begriff "Spitzel" als "Schmähwort" "verächtlich" definiert ist. Der Begriff brächte, entgegen dem Oberlandesgericht Hamburg "vor allem ein Unwerturteil über die Art und Weise der Beobachtung zum Ausdruck".

Nach der Entscheidung des BVerfG vom 10. Oktober 1995, abge­druckt in NJW 1995, S. 3303 ff. <S. 3305>, verstoßen Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar verfehlen, gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Dies ist hier schon deshalb anzunehmen, weil das Oberlandesgericht Hamburg weder eine Sinnermittlung noch eine Abwägung vorgenommen hat.

c)
Auch das Berliner Kammergericht hatte die Frage zu prüfen, ob der Begriff "Stasi-Spitzel" eine Tatsachenbehauptung oder eine wertende Äußerung sei. Auch das Kammergericht hat - anders als das Hanseatische Oberlandesgericht - unter Aufnahme der Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts den Begriff als Meinungsäußerung und Wertung, nicht als Tatsachenbehauptung definiert. Wegen der Einzelheiten fügen wir das Urteil des Kammergerichts vom 10. Dezember 1993 als - Anlage 9 - bei. Desgleichen ein Beschluß vom 16. Januar 1996

- Anlage 9 A -.

d)
In vorliegendem Fall ist der Begriff "Stasi-Spitzel" ohne jeden konkreten Zusammenhang und nicht nur in Bezug auf den Antragsteller, sondern auch auf andere Personen gefallen. Der Begriff "Stasi-Spitzel" ist nicht einmal Teil einer Tat­sachenkette. Für solche Fälle hat der BGH (NJW 93, S. 931) ausgeführt:

"Gerade solche Äußerungen, in denen das Tatsachensub­strat... für den Leser nicht hinreichend kenntlich wird, weisen sich für ihn, weil er ihnen eine Mitteilung über den Beweis zugänglicher Vorgänge nicht entnehmen kann, als bloße subjektive Meinungen und nicht als Tatsachen­behauptungen aus."

Ist mithin davon auszugehen, daß bei dem Begriff "Stasi-Spitzel" das wertende Element überwiegt, dann durfte weder das Landgericht Hamburg noch das Hanseatische Oberlandesgericht die durch Art. 5 Abs. IS. l GG geschützte Meinungs­äußerung verbieten und die Beschwerdeführerin zur Unterlassung verurteilen. Denn eine Schmähkritik liegt angesichts des umfangreichen gegen die Person des Dr. Gysi sprechenden Ak­tenmaterials eindeutig nicht vor. Wie sich aus der Broschüre - Anlage 10 - eine kleine Zusammenstellung authentischer Dokumente ergibt, wird Dr. Gysi darin als Informant, Berater und Medium des MfS mehrfach mit seinem "Klarnamen" genannt. Sofern Gysi mit den Decknamen als "IM-Notar" oder "Gregor" oder "Sputnik" erwähnt wird, hat die spezielle Fachbehörde der Bundesrepublik Deutschland, die Gauck-Behörde in ihrem Gutachten von 1995 eindeutig ausgeführt, daß sich hinter dem Decknamen IM-Notar und IM-Gregor niemand anders als Dr. Gysi verberge. Daraus folgt zumindest, daß in der Äußerung der Beschwerdeführerin keine "Schmähkritik" zu sehen ist, ein Begriff, der eng zu definieren ist (vgl. BVerfG HJW 95, S. 3304) .

3.
Das Oberlandesgericht Hamburg hat der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts auch insoweit zuwider entschieden, als es nicht beachtet hat, daß auch "scharfe und übersteigerte Äußerungen grundsätzlich in den Schutzbereich des Ar­tikel 5 Abs. l Satz l GG" fallen. Wenn es sich - wie unstreitig im vorliegenden Fall - um Beiträge zum "geistigen Mei­nungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage" handelt, so gilt die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtssprechung festgestellte "Vermutung für die Zulässigkeit freier Rede" (Bundesverfassungsgericht <a. a. O.> und bestätigend in NJW 95, S. 3305). Die Entscheidung des Oberlandesgerichts läßt die Frage außer Acht, ob die Äußerung der Beschwerdeführerin in den Schutzbereich von Artikel 5 Grundgesetz fällt und ob es daher für die Auslegung und An­wendung der §§ 185, 193 StGB Bedeutung haben könnte, die Auswirkung der Meinungsäußerungsfreiheit in die Entscheidung einzubeziehen. Artikel 5 Absatz l GG findet in der Entschei­dung des Oberlandesgerichts weder direkt noch sinngemäß Er­wähnung. Nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsge­richts (z. B. NJW 1995, S. 3304 mit weiteren Nachweisen) wird das berechtigte Interesse besonders dann bejaht, wenn jemand sich - wie hier - "an einer öffentlichen Auseinandersetzung über - politisch relevante Fragen" beteiligt.

Was die Wahrnehmung berechtigter Interessen auf Seiten der Beschwerdeführerin im Übrigen angeht, dürfte deren Spielraum im Lichte des Art. 5 Abs. l S. l betrachtet, besonders weit sein. Ursache und Rahmen ihrer Äußerung zu der Person des Dr. Gysi ist eine politische Auseinandersetzung, die vor allem in Berlin mit aller Schärfe geführt wird. Im vorliegenden Fall vor der Wohnung Wolf Biermanns, die bis 1989 dem MfS zur Be­obachtung der Ständigen Vertretung der "BRD" diente und jetzt von dem Pressesprecher der PDS, vermutlich ebenfalls einem ehemaligen MfS-Informanten, okkupiert ist. Als Opfer, Bürger­rechtlerin, Repräsentantin des Neuen Forums und eine Meinungsführerin in dem politischen Streit mit den nach wie vor aktiven Repräsentanten der DDR muß ihr berechtigtes Interesse an einer Wertung anerkannt werden, die durch die Aktenlage und die Gauck-Behörde bestätigt ist. Daß es gerade einen Vertreter jenes Regimes mit Hilfe der Justiz möglich bleiben sollte, der Beschwerdeführerin "den Mund zu verbieten", würde dem verfassungsrechtlich gesicherten rechtstaatlich-demokratischen Umgang mit dem politischen Meinungskampf widersprechen.

4.
Selbst wenn man jedoch den Begriff "Stasi-Spitzel" im vor­liegenden Fall als Tatsachenbehauptung bewerten müßte, fiele die Äußerung, wie das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung (NJW 1992, Seite 1440) ausgesprochen hat, "nicht von vornherein aus dem Schutzbereich von Artikel 5 Abs. l Satz l GG heraus". Sie wäre vielmehr "durch das Grund­recht der Meinungsfreiheit geschützt, weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen ist, welche Artikel 5. Abs. 1. GG gewährleistet". Vgl. BVerfG a. a. 0. mit weite­ren Nachweisen. Der. Schutz der Meinungsfreiheit für Tatsachenbehauptungen, so das BVerfG, endet erst dort, wo es sich um unrichtige Informationen, erwiesene oder bewußt unwahre Tatsachenbehauptungen handelt (vgl, BVerfG a. a. 0.). Angesichts der Aktenlage und ihrer authentischen Bewertung durch die Gauck-Behörde muß die Äußerung "Stasi-Spitzel" auch als Tatsachenbehauptung von Art. 5 Abs. l GG gedeckt sein. Denn die Anforderungen an die Wahrheitspflicht dürfen nicht so bemessen werden, daß darunter die Funktion der Meinungsfreiheit leidet (vgl. BVerfG a. a. O.). Im Übrigen wird auf die vorangegangene Ausführung zur Bedeutung des Rechts - in § 193 StGB hingewiesen.

a)
Das Bundesverfassungsgericht hat in NJW 1992, S. 1440 ausgeführt, daß an die Wahrheitspflicht im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden dürfen, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen und so auf die Meinungsfreiheit insgesamt einschnürend wirken können (a. a. O. Seite 1441). Dies ist nach Auffassung der Beschwer­deführerin dann der Fall, wenn ihr zwar von dem Oberlandesge­richt Hamburg attestiert wird, vieles spreche gegen die Loyalität des Dr. Gysi, sie habe jedoch nicht nachweisen können, wann, wo und wie dieser vom MfS beauftragt worden sei. Damit überbürdet das Oberlandesgericht Hamburg der Be­schwerdeführerin eine Darlegungs- und Beweislast, die sie nur als Kollaborantin des MfS-Apparates leisten könnte. Im Er­gebnis bedeutete dies, daß ein Spitzel nur von einem einge­weihten Kollegen als solcher bezeichnet werden könnte oder wenn er, wie Schnur, den Akteninhalt nicht in Frage stellt. Solche Anforderungen können mit einem freiheitlichen, auf Dialog und Auseinandersetzung programmierten Staats- und Gesellschaftsordnung nicht in Übereinstimmung stehen.

5.
Ein Grundrechtsverstoß liegt auch in der Tatsache, daß der Senat des Hanseatischen Oberlandesgerichts sich im Grunde darauf beschränkt hat, den Begriff "Stasi-Spitzel" ohne Abwägung der Interessenlagen des Dr. Gysi und der Beschwerdefüh­rerin zu werten. Dadurch enthält das Grundrecht der Beschwer­deführerin aus Art. 5 Abs. IS. l GG eine unzureichende Gewichtung (vgl. BVerfG Beschluß vom 19. Dezember 1991 in NJW 1992, Seite 2014). In Wahrheit nimmt das Hanseatische Oberlandesgericht eine Abwägung gar nicht vor. Zwar spricht es in einem Satz von dem erhöhten berechtigten Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu erfahren, ob der Kläger Informatio­nen an das MfS gegeben hat, erklärt jedoch noch in dem selben Satz, daß sich Dr. Gysi, wegen der Schwere des Vorwurfs, der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetze. Deshalb hätte die Beklagte die Pflicht gehabt, sorgfältiger zu recherchieren. Gänzlich unerwähnt läßt das Oberlandesgericht, daß sich die Beschwerdeführerin ihrerseits bereits strafbar gemacht hat; denn das Oberlandesgericht hält die Vorschrift des § 186 BGB für gegeben. Da Dr. Gysi die zu seinen Gunsten gefällten Entscheidungen durch Strafbeschlüsse umsetzt, befindet sich die Beschwerdeführerin ihrerseits in der Rolle der Verurteilten . Dieser Gesichtspunkt wird von dem Oberlandesgericht überhaupt nicht gewürdigt. Wenn das OLG der Beschwerdeführerin vorhält, sie hätte "sorgfältiger recherchieren" müssen, so wird weder der Aufwand an Aktenmaterial, den die Beschwerdeführerin im Laufe des Rechtsstreits der Hamburger Justiz vorgelegt hat, noch die Tatsache gewürdigt, daß die Fachbehörde der Bundesrepublik Deutschland, die Gauck-Behörde, nach mehrjähriger Recherche zu einem Ergebnis gekommen ist, daß die Äußerung der Beschwerdeführerin übertrifft. Diese hatte sich auf die Formulierung "Stasi-Spitzel" beschränkt, ohne Dr. Gysi die Rolle des IM anzulasten.

Um keine Stoffmaximierung zu betreiben, fügt die Beschwerde­führerin lediglich das Gutachen der Gauck-Behörde vom 26. Mai 1995 bei sowie die Entschlüsselung des Decknamen der Person des Dr. Gysi durch dieselbe Behörde vom 06. Juni 1995 - An­lage 11 und 12 -. Das Gutachten enthält einen großen Teil der Unterlagen, den die Beschwerdeführerin ihrerseits in dem Hamburger Verfahren überreicht hat. Die Gauck-Behörde kommt zu der Auffassung, daß Dr. Gysi identisch ist mit der Per­son, die vom MfS mit dem Decknamen "Notar", "Gregor" oder "Sputnik" benannt wird. Die Beschwerdeführerin überreicht weiter die Broschüre im Fall Bahro u. a., - anläge 10 - indem Gysi mehrfach mit seinem Klarnamen als Informant und Ratgeber der Stasi benannt ist. Die Rechtssprechung des Ober­landesgerichts Hamburg läuft darauf hinaus, daß sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung nur berufen könne, wer den Adressaten durch dessen Geständnis überführt. Daß Gysi, anders als Stolpe, Schnur, Böhme und de Maiziere als einziger den gegen ihn sprechenden Akteninhalt für unrichtig erklärt, unterscheidet seine Bewertung als Spitzel nicht von derje­nigen der übrigen durch andere Akten Belasteten.

6.
Eine Verletzung des Artikels 103 GG erblickt die Beschwerde­führerin darin, daß das Oberlandesgericht zwar von einer "Tatsachenbehauptung" ausgeht, im Hinblick auf den Begriff "Stasi-Spitzel", die angebotenen Beweise der Beschwerde­führerin - insbesondere durch Einholung eines Sachver­ständigengutachtens der Gauck-Behörde - mit der Begründung ablehnt, dieser Beweisantrag sei unsubstantiiert. Wenn die allgemeine Typisierung des Dr. Gysi durch die Beschwerde­führerin als "Stasi-Spitzel" trotz ihrer Allgemeinheit und des wertenden Charakters als Tatsachenbehauptung definiert werden müßte, müßte es der Beschwerdeführerin auch gestattet sein, diese allgemeine Behauptung durch einen "allgemeinen" Beweisantritt zu verifizieren. In der Verweigerung dessen liegt ein Verstoß gegen die Grundrechte der Beschwerde­führerin, auch gegen Art. 103 GG.

7.
Abschließend ist ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. l S. GG zu Lasten der Beschwerdeführerin darin zu sehen, daß ihr ver­wehrt sein soll, denselben Vorwurf gegenüber Dr. Gysi zu erheben, den die von der Bundesrepublik Deutschland einge­richtete Fachbehörde im Auftrag des Deutschen Bundestages als zutreffend recherchiert und begründet hat. Solange es dieser Behörde nicht gerichtlich untersagt ist festzustellen, daß Dr. Gysi der "IM-Notar" bzw. "Gregor" sei, muß der Beschwer­deführerin, die eine derart institutionelle Bindung des Dr. Gysi an das MfS nie behauptet, sondern aus den ihr vorlie­genden Aktenmaterial lediglich auf seine Zuträgerschaft geschlossen hat, ebenfalls gestattet sein. über eine Unterlassungsklage Dr. Gysis gegen die Gauck-Behörde ist nichts bekannt geworden. Der Beschwerdeführerin kann es nicht verwehrt sein zu wiederholen oder zu verbreiten, was sozusagen amtlich festgestellt ist.

8.
Der Vorgang hat insofern keine grundsätzliche Bedeutung, als das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend sämtliche Ober­gerichte der Bundesrepublik Deutschland den Schutz der Mei­nungsfreiheit definiert und umgesetzt haben. Die grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits liegt jedoch darin, daß die Hamburger Justiz, soweit für Presserecht zuständig, diese Rechtssprechung beharrlich nicht zur Kenntnis nimmt, ge­schweige denn in ihren Urteilssprüchen anwendet. Für die Beschwerdeführerin und viele andere, die bis 1989 in einem totalitären Staat gelebt haben, wäre das Vertrauen in den Rechtsstaat und die führende Rolle der Verfassungsrechtssprechung im besonderen Maß erschüttert, wenn es bei der Praxis der Hamburger Justiz bliebe. Nicht ohne Grund erhebt Dr. Gysi, obwohl ebenso wie die Beschwerdeführerin in Berlin ansässig und um die Äußerung in einer "Berliner Zeitung" streitend, seine Klagen ausschließlich in Hamburg. Dies ist zwar zulässig, führt jedoch im Ergebnis zu einer gespaltenen Rechtsanwendung. Was in der übrigen Bundesrepublik durch Richterspruch erlaubt ist, kann durch Hamburger Gerichte verboten und mit Strafe bedroht werden. Insofern hat die Anrufung des BVerfG im Hinblick auf eine verfassungrechtlich orientierte Rechtssprechung in ganz Deutschland auch grundsätzliche Bedeutung.

Vollmacht der Beschwerdeführerin anbei.

Beglaubigte und einfache Abschrift anbei

gez. Dr. Lehmann-Brauns
Dr. Distrlch Mahle
Michael Braun
Rechtsanwälte

 

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Dieses Dokument wurde zuletzt aktualisiert am 093.05.06
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