"Tygodnik Powszechny" Nr. 8/2004, Seiten 1 und 5 (Übersetzung aus dem Polnischen) Die zwölf Aktenordner der Gabriele Lesser von Tomasz Potkaj Ende Februar wird vor dem Hamburger Landgericht
ein Präzedenzfall verhandelt: Der Bund der Vertriebenen (BdV) und
seine Präsidentin haben eine in Warschau lebende Korrespondentin
verklagt, die in ihren in Deutschland publizierten Artikeln das in
Berlin geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" und den destruktiven
Einfluss Erika Steinbachs auf deutsch-polnische Beziehungen
kritisiert hatte. Oktober 1985, kurz vor dem Wintersemester. Die junge Deutsche, eine Stipendiatin an der Geschichtsfakultät der Jagiellonen-Universität, war gerade in Krakau eingetroffen. Sie wollte so viel wie möglich über dieses merkwürdige Land in der Mitte Europas erfahren. Auf dem Krakauer Hauptmarkt stehend, baute sie in Gedanken einen polnischen Satz, wählte die richtige grammatische Form, und erst dann fragte sie. "Alle haben mich verstanden, das war eine Freude! Aber dann antworteten sie in einem Tempo, dass ich wie ein Esel dastand und gar nichts verstand". Das waren die ersten Tage in einem fremden Land. Aber es gab noch ein zweites Problem: jede zweite Antwort war: "Ich weiß nicht". Lesser: "Ich konnte einfach nicht begreifen, dass so viele Leute so wenig wissen konnten. Im Stillen begann ich zu argwöhnen, dass diese Krakauer vielleicht ganz einfach ein bisschen dumm waren...?". Sie hatte sich auf die Reise hinter den Eisernen Vorhang gut vorbereitet. Shampoo solle sie mitnehmen, hatte man ihr gesagt, Toilettenpapier und Gummistöpsel fürs Waschbecken. Außerdem solle sie sich nicht wundern, dass die Regale in den Läden leer seien und man Lebensmittelkarten brauche, wenn man Fleisch kaufen wolle. Lesser: "Aber als ich in Krakau zum ersten Mal mit der Straßenbahn fuhr, sah ich, dass die Leute gewaschene Haare hatten, obwohl es in den Läden tatsächlich kein Shampoo zu kaufen gab. Wie machen die das bloß, wunderte ich mich". Polen war ein Land voller Paradoxe, stellte sie
mit der Zeit fest. Dass sie einmal für länger hier leben könnte,
hätte sie damals nicht für möglich gehalten. Im Gegenteil: "Warum
verlassen die Polen nicht massenhaft dieses Land in Richtung
Westen?", fragte sie sich damals. "Immerhin war Krakau schmutzig und
die Luft so schwefelhaltig, dass man kaum atmen konnte". Während ihres ersten knapp einjährigen Aufenthaltes in Polen sammelte sie Material für ihre Magister-Arbeit über die Untergrunduniversität in Krakau im Zweiten Weltkrieg. 1990 erhielt sie für das Buch "Leben als ob" den renommierten Fritz-Theodor-Epstein-Preis des Verbandes der Osteuropa-Historiker. Kurz darauf kam die junge Frau erneut mit einem Stipendium für ein Jahr nach Krakau und Warschau. Danach fuhr sie weiter, nach Israel und England. Lesser: "Ich habe ein völlig anderes Polen vorgefunden, als das aus den früheren Jahren, und Menschen die sagten: Was haben wir von der Freiheit, wenn wir keine Arbeit haben?". Damals, Anfang der 90-er Jahre, kam Gabriele Lesser wegen Hans Frank, dem "Generalgouverneur" im besetzten Polen, der nach dem Krieg hingerichtet wurde. Sie wollte ihre Dissertation über die Karriere eines Nazi-Funktionärs in Polen schreiben. Rückkehr in die Gegenwart Zurück in Deutschland, nahm sie die
Lehrveranstaltungen an der Universität Köln zur Geschichte des
Zweiten Weltkrieges in Polen wieder auf. Sie setzte den Studenten
die deutsche und sowjetische Besatzung Polens auseinander, die
Geschichte der Ghettos und KZs, und schrieb die Biographie Hans
Franks. Eines Tages stellte sie entsetzt fest, dass sie Gegenwart und Vergangenheit nicht mehr richtig auseinanderhalten konnte. Dass sich die Zeit-Grenzen verwischten und sie mehr über das Jahr 1942 wusste, als über das gerade laufende. Sie begann für den Rundfunk zu arbeiten, das schnellste von allen Medien. "Das war so eine Art Autotherapie", erinnert sie sich, "Ich beschleunigte ganz bewusst mein Leben, musste ich doch über das, was heute geschah, auch heute berichten, nicht erst 50 Jahre später. Ich war gezwungen, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren, so dass der Zweite Weltkrieg dann auch tatsächlich in den Hintergrund rückte". Zunächst sollte die Pause drei Monate dauern. Aber
die Albträume hörten nicht auf. "Irgendwann wurde mir klar, dass ich
nicht in Deutschland bleiben kann. Dass ich wegfahren muss". Bücher
und Notizen über Hans Frank wanderten aufs Regal. Einige Monate
später bot ihr die "Tageszeitung" (taz) in Berlin an, für sie als
Korrespondentin nach Warschau zu gehen. Zunächst hatte sie erst einmal Pech: Nach einem Zeckenbiss landete sie mit einer schweren Hirnhautentzündung im Krankenhaus. Ärzte bekamen die Krankheit nicht in den Griff, so dass die Entzündung auf die Augen- und Hörnerven übergriff, ja sogar auf den Gleichgewichtssinn. Am Ende saß sie im Rollstuhl, sah und hörte kaum noch etwas. Der Genesungsprozess zog sich über Jahre hin. Sie lebte weiterhin in Warschau, fuhr zwischendurch aber immer wieder nach Berlin zur Behandlung. Mit der Hilfe von drei Studenten, die ihr Zeitungen vorlasen und Interviews für sie führten, schrieb sie ihre Korrespondentenberichte aus Polen. "Es hat damals wohl kaum ein Leser meiner Berichte bemerkt, dass die Autorin fast nichts sah und hörte", erinnert sie sich, "Ich bin der >taz< bis heute dafür dankbar, dass sie mich damals nicht im Stich gelassen haben". Heute schreibt sie nicht nur für die "taz", sondern auch für eine Reihe Regionalblätter und ein halbes Dutzend jüdischer Zeitschriften. Sie berichtet über die große Politik in Polen, wie auch den kleinen Mann (und Frau) auf der Straße und deren Probleme im Alltag, über Zwergschulen auf dem Lande, Bergleute in Oberschlesien, über ökologische Landwirtschaft in Masuren. Einen besonderen Schwerpunkt in ihrer Berichterstattung nimmt der Wandel der polnischen Mentalität in den letzten Jahren ein. Dabei spart sie nicht mit Kritik an uns. Sie geht
heikle Themen an, wie z.B. die innenpolnische Diskussion über den
Mord an den Juden von Jedwabne im Juli 1941, oder den Einsatz
polnischer Soldaten im Irak. Es kommt auch vor, dass polnische
Fachkollegen und sogar Politiker ihren Ansichten widersprechen und
dies mit ihr offen diskutieren. Die Flugzeuge der Erika Steinbach Die erste Idee Erika Steinbachs im September 1998 war der so genannte "Berliner Appell". Darin stellte die neue BdV-Präsidentin Bedingungen für Polen und Tschechien auf, die diese zu erfüllen hätten, wenn sie der Europäischen Union beitreten wollten. Es tauchten Worte auf wie "Entschädigung" für die Vertriebenen und "Rückkehr" der Vertriebenen und ihrer Nachkommen in die einstige Heimat. Ein Jahr später, nach dem Kosovo-Krieg und den
zahlreichen Bildern der von Milosevic vertriebenen Albaner, begannen
sich die Deutschen zunehmend an die eigene Vertreibung nach 1945 zu
erinnern. In diesem Text Steinbachs findet sich auch die vielfach von der deutschen und polnischen Presse zitierte Passage, dass es im Interesse aller Europäer liege, die hohe Wertschätzung der Menschenrechte nicht durch Länder wie Polen und Tschechien entwerten zu lassen. "Es bedarf keiner Kampfflugzeuge", schrieb sie wörtlich. Ein schlichtes "Veto" in Brüssel zur Aufnahme dieser Kandidaten sei ausreichend. Ein Teil der deutschen Öffentlichkeit machte sich
die Argumentation Erika Steinbachs zu Eigen und sah im Schicksal der
deutschen Vertriebenen eine Parallele zu dem der Albaner und
Bosniaken. "In Wirklichkeit ist es doch ganz anders", überzeugt
Gabriele Lesser, "Denn die treffendere Analogie ist die zwischen
Serben und Deutschen. Denn Deutsche wie Serben sind Opfer einer
Politik der Aggression, die ihre Regierungen vom Zaun gebrochen
hatten". Aufgrund dieser Forderungen und einer Vertriebenenbiographie, die eher der Dichtung denn der Wahrheit verpflichtet ist, erlangte Steinbach schnell eine starke politische Position. Dabei hatte die "Rzeczpospolita" schon im Jahre 2000 die Wahrheit über die "Vertreibung" von Erika Steinbach aufgedeckt: Sie kam als Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten zur Welt, noch dazu in einem Gebiet, auf dem zuvor die Deutschen die Polen vertrieben hatten. Heute gilt Erika Steinbach als eine der einflussreicheren Personen innerhalb der CDU. Steinbach versus Lesser Nachdem im Frühjahr 2003 die Abstimmungen über den Beitritt zur EU in Polen und Tschechien ein positives Ergebnis gebracht hatten, griff Erika Steinbach erneut die Idee auf, ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten. Diese Vision eines Mahnmals, das in erster Linie den Deutschen gewidmet sein sollte, die infolge des verlorenen Krieges aus dem Osten vertrieben wurden, stieß in Polen auf eindeutige Ablehnung. Die in dieser Frage schwankende Haltung der deutschen Regierung trug zur weiteren Verschlechterung der – ohnehin nicht mehr guten – deutsch-polnischen Beziehungen bei. Auf Steinbach war man in Polen nicht gut zu sprechen. Im August 2003 schickte Gabriele Lesser einen Kommentar zu den polnischen Reaktionen auf das geplante "Zentrum" an ihre Redaktionen in Deutschland. Darunter waren auch die "Kieler Nachrichten", die den Artikel – allerdings in abgewandelter Form – unter dem Titel "Von Versöhnung noch weit entfernt" veröffentlichten. Lessers Ton war scharf und ironisch, wie in Kommentaren üblich. Die These war klar: Der fatale und überflüssige Streit um das geplante "Zentrum" hatte den deutsch-polnischen Beziehungen geschadet und dazu geführt, dass unter den Polen längst tot geglaubte antideutsche Phobien wieder auflebten. Ein Beispiel dafür war das Titelblatt-Collage des Nachrichtenmagazins "Wprost", auf dem Steinbach in SS-Uniform und auf Kanzler Schröder reitend dargestellt wurde. Lesser zitierte auch den ehemaligen polnischen Außenministers Bronislaw Geremek, der sagte: "Das Zentrum gegen Vertreibungen wird ein Denkmal des Hasses für die junge Generation sein". Abschließend fragt Lesser in ihrem Kommentar: "Es kann nicht sein, dass die Vertriebenen, so verständlich ihr individuelles Leid ist, die deutsch-polnische Versöhnung der letzten zehn Jahre in einen neuen Hass-Dialog verwandeln. Denn – wo soll das alles enden?". Es war dies nicht der erste kritische Text aus der Feder von Gabriele Lesser über den BdV und dessen Präsidentin. Doch auch die meisten der übrigen deutschen Korrespondenten in Polen sowie zahlreiche Publizisten in Deutschland schrieben kritische Kommentare zu Erika Steinbach. Dennoch wurde die Klage Steinbachs nur an eine Warschauer Adresse versandt: an die Gabriele Lessers. Zunächst hatte der Anwalt Steinbachs die
Journalistin aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, in der
sich Lesser verpflichten würde, einige ihrer kritischen Äußerungen
über das geplante "Zentrum" und über Erika Steinbach in Zukunft zu
unterlassen, weil diese der Wahrheit nicht entsprechen würden – nach
Ansicht des Anwalts, der auf den medialen Bereich spezialisiert und
für seine hohen Honorare bekannt ist. Selbstverständlich, so führt der Anwalt von
Steinbach in seiner Klage an, gehe es nicht darum, der Beklagen zu
verbieten, sich kritisch zum BdV, seiner Präsidentin und dem
"Zentrum gegen Vertreibungen" zu äußern. Zu Gericht über die Geschichte Die erhobenen Vorwürfe erwecken in der Tat den
Eindruck, an den Haaren herbeigezogen zu sein. So bezeichnete Lesser
das "Zentrum" als "Mahnmal", was in der deutschen Sprache mehr ist
als ein Denkmal. Ein Mahnmal ist beispielsweise Yad Vashem, die
Gedenkstätte an die Shoah in Israel. Auch das Holocaust-Museum in
Washington hat Mahnmalscharakter. Die Vorwürfe Erika Steinbachs lassen sich auf zwei
Fragen reduzieren, die von historischer und politischer
Schlüsselbedeutung sind. Der Steinbach vertretende Anwalt erklärt nun, dass der BdV niemals die Absicht gehabt habe, das "Zentrum" in diesem Zusammenhang zu sehen. Dabei gibt es aber frühere Äußerungen der Präsidentin des BdV, in denen sie den Wunsch äußert, das "Zentrum" solle doch in deutlich erkennbarer "geschichtlicher und räumlicher Nähe" zum Holocaust-Mahnmal lokalisiert werden. Sie begründete diese Forderung damit, dass in der ersten Phase der Verfolgung die Juden auch Vertreibungsopfer gewesen seien. Wörtlich heißt es in der "Leipziger Volkszeitung" vom 29. Mai 2000: "Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein". Zum zweiten hatte Lesser in ihrem Kommentar geschrieben, dass der BdV niemals positiv auf die Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe vom November 1965 geantwortet hatte. In diesem Brief an das deutsche Episkopat hatten die polnischen Bischöfe mit dem – inzwischen berühmten – Satz "Wir vergeben und bitten um Vergebung" die Hände zur Versöhnung ausgestreckt. Der Anwalt von Erika Steinbach wendet nun ein, dass der damalige Vorsitzende des BdV den Brief der polnischen Bischöfe 1965 als "begrüßenswerte Geste" bezeichnet habe, was nun vom Gericht als "positive Antwort" gewertet werden solle. Nach dem Willen des BdV soll nun also das Gericht entscheiden, ob der BdV damals einen positiven Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung geleistet hat. Was aber heißt hier "positiv"? Tatsächlich haben einige BdV-Mitglieder – nicht nur der vom Anwalt angeführte Wenzel Jaksch – auf die Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe mit Freude reagiert. Allerdings nicht aus jenen Gründen, die die Bischöfe beim Schreiben des Briefes im Sinn hatten. Die BdV-Funktionäre bewerteten diesen Brief als "positiv", weil sie darin eine Chance sahen, die Grenze zu Polen erneut in Frage stellen zu können. Doch darum war es den Bischöfen mit ihrer Bitte um Vergebung für die Vertreibung der Deutschen natürlich nicht gegangen. Ähnlich "positiv" bewertete auch die neonazistisch
geprägte "Deutsche National- und Soldatenzeitung" den Briefwechsel
zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen: Den polnischen
Bischofsbrief könne man zum Anlass nehmen, um die Oder-Neiße-Grenze
erneut in Frage zu stellen. Wenn also das Gericht der Klage Erika Steinbachs stattgibt, und sie nicht als gegenstandslos zurückweist – wie Renate Damm, die Anwältin Gabriele Lessers beantragt hat – dann wird es vor einer schwierigen Aufgabe stehen: Es muss entscheiden, was in den vergangenen Jahrzehnten als "positiver" Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung gewertet werden kann und was nicht. Zentrum gegen Vertreibungen – trotz alledem? Vielleicht hat es Erika Steinbach gerade darauf angelegt? Vielleicht will sie einen Präzedenzfall heraufbeschwören, bei dem ihr das Gericht helfen soll, ihre politischen Ziele zu verwirklichen und die Geschichte so umzuschreiben, dass der BdV sich plötzlich als Förderer der deutsch-polnischen Versöhnung präsentieren könnte? Sollte es Erika Steinbach in diesem Prozess
gelingen, Gabriele Lesser den Mund verbieten zu lassen, wäre dies
ein Signal für alle anderen potentiellen Kritiker des BdV. "Im Grunde genommen ist dieser Prozess völlig absurd", sagt Gabriele Lesser. "Vielleicht bringt er Erika Steinbach eine gewisse Genugtuung? Ich weiß es nicht. Ich verstehe auch nicht, wieso sie sich nichts von Marek Edelmann sagen lässt, von Bronislaw Geremek oder Jerzy Holzer, wieso sie die vielen bekannten polnischen, tschechischen und deutschen Intellektuellen einfach ignoriert". Erika Steinbach kündigte bereits an, dass sie das
"Zentrum gegen Vertreibungen" auf jeden Fall bauen werde, auch wenn
es Jahre dauern sollte – und trotz der Proteste aus Polen und
Tschechien. hagalil.com 16-02-04 |
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